Goldener Brief



WILHELM  VON  SAINT-THIERRY
BRIEF  AN  DIE  BRÜDER  VOM  BERGE  GOTTES





(Nach der Übersetzung von Abt Bernhard Kohout-Berghammer O.Cist. – in der Herausgeberschaft der Zisterzienserinnenabtei Eschenbach, die auch die Erlaubnis zur Veröffentlichung auf diesem Blog erteilt hat.

Hier: ohne Vorwort, Einleitung und Anmerkungen)                                   




Brief des Herrn Wilhelm
An die Brüder vom Berge Gottes

Einleitung

I. Glückwünsche und Ermutigung

Es gibt wieder Einsiedler

1. Den Brüdern vom Berge Gottes, die das Licht des Ostens und jenen alten religiösen Eifer aus Ägypten in die Dunkelheit des Westens und in die Kälte Galliens brachten, nämlich das Beispiel eines Lebens in der Einsamkeit und die Form eines himmlischen Lebens, ihnen eile entgegen und eile mit ihnen, meine Seele, in der Freude des Heiligen Geistes (1 Thess 1,6), mit dem Jubel des Herzens, mit dem Eifer der Liebe und mit der ganzen Hingabe eines ergebenen Willens.

2. Warum sollte man auch nicht Festmahl halten im Herrn (Lk 15,32; Phil 3,1) und sich freuen, da doch der herrlichste Teil der christlichen Religion, der den Himmel fast zu berühren schien, tot war und wieder lebendig wurde, verloren war und wieder gefunden wurde (Lk 15,24.32)?

3. Wir hörten es mit unseren Ohren (Ps 17,45) und konnten es nicht glauben. Wir lasen es in den Büchern und staunten über den alten Ruhm des Einsiedlerlebens und über die große Gnade Gottes in ihm. Doch plötzlich fanden wir es in den Fluren des Waldes (Ps 131,6), auf dem Berge Gottes, auf dem fruchtbaren Berg (Ps 67,16), wo schon die Schönheiten der Wüste Frucht bringen und die Hügel sich mit Freude umgürten (Ps 64,13).

4. Dort nämlich erscheint durch euch dieses Leben schon vor allen, in euch zeigt es sich, bisher unbekannt, wird es bekannt. Mit Hilfe weniger einfacher Menschen führt er selbst es uns vor Augen, der mit Hilfe weniger einfacher Menschen sich die ganze Welt unterworfen hat, zur Verwunderung der Welt.  Mögen nämlich die Wunder, die der Herr auf Erden wirkte, gewiss auch groß und göttlich gewesen sein, dieses eine aber überstrahlte alle anderen und erleuchtete alles übrige, dass er, wie gesagt, mit Hilfe weniger einfacher Menschen sich die ganze Welt und die ganze Erhabenheit ihrer Weisheit unterworfen hat. Dieses Wunder begann er nun auch in euch zu wirken.

6. Ja, Vater, so ist es vor dir wohlgefällig (Mt 11,26). Denn du hast das vor den Weisen und Klugen dieser Welt verborgen und den Kleinen geoffenbart (Mt 11,25). Fürchtet euch also nicht, kleine Herde, spricht der Herr, sondern seid voll Vertrauen, denn es hat Gott, dem Vater, gefallen, euch das Reich zu geben (Lk 12,32).


Die Berufung der Brüder

7. Schaut doch auf eure Berufung, Brüder (1 Kor 1,26)! Wo ist ein Weiser unter euch? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer dieser Welt (1 Kor 1,20)? Denn wenn es auch einige Weise unter euch gibt, so hat er dennoch durch die Einfachen die Weisen gesammelt, er, der sich einst Könige und Philosophen dieser Welt durch Fischer unterworfen hat.

8. Lasst also, lasst die Weisen dieser Welt, die vom Geist dieser Welt aufgeblasen sind (1 Kor 2,12), nach dem Hohen trachten (Röm 12,16) und die Erde belecken (Ps 71,9), mit ihrer Weisheit in die Hölle hinabstürzen. Ihr aber setzt euer Beginnen fort, während dem Sünder eine Grube gegraben wird (Ps 93,13). Ihr wurdet Toren wegen Gott. Ergreift durch die Torheit Gottes, die weiser ist als alle Menschen (1 Kor 1,25), unter der Führung Christi die demütige Lebensweise (Ps 2,12), um in den Himmel aufzusteigen.

9. Eure Einfachheit hat schon viele zum Eifer angespornt (2 Kor 9,2); eure Genügsamkeit und äußerste Armut (2 Kor 8,2) beschämt schon die Habgier vieler; eure Abgeschiedenheit flößt schon sehr vielen einen Schrecken vor jenen Dingen ein, die Lärm zu verursachen scheinen. Wenn es also irgendeinen Trost in Christus gibt, irgendeine Ermutigung in der Liebe, irgendeine Gemeinschaft des Geistes, wenn es ein herzliches Erbarmen gibt, macht meine Freude vollkommen (Phil  2,1-2), aber nicht nur meine Freude, sondern die Freude aller, die den Namen des Herrn lieben (Ps 118,132): im bunten, vom Gold der göttlichen Weisheit geschmückten Kleid der Königin, die zur Rechten des Bräutigams steht (Ps 44, 10), möge durch euren Eifer, durch euer inständiges Bemühen dieser Schmuck einer heiligen Neuheit wieder hergestellt werden. zur Ehre Gottes, zu eurem großen Ruhm und zur Freude aller Guten.


Vorwurf der Neuheit

10. "Neuheit" sage ich wegen der bösen Zungen von qottlosen Menschen (Sir 28,28), vor deren Angriff euch Gott in der Verborgenheit seines Angesichtes schützen möge (Ps 30, 21). Weil sie das offenbare Licht der Wahrheit nicht verdunkeln können, erregen sie sich am bloßen Wort "Neuheit". Alt sind sie selbst, und in ihrer alten Gesinnung sind sie unfähig, Neues zu denken. Sie sind alte Schläuche, die neuen Wein nicht fassen. Wenn er in sie gegossen würde, würden sie zerreißen (Mt 9,17; Mk 2,22; Lk 5,37).

11. Aber diese Neuheit ist nicht eine neuartige Eitelkeit. Sie ist eine Sache der alten Religion, die Vollkommenheit der in Christus begründeten Frömmigkeit, das alte Erbe der Kirche Gottes. Angekündigt in der Zeit der Propheten, wurde sie, als die Sonne der neuen Gnade schon aufgegangen war, von Johannes dem Täufer wieder eingeführt und erneuert (Mt 3,1-4; Mk 1,3-6; Lk 3,2-4), vom Herrn selbst oft mit größter Liebe geübt (Mt 14,23; Mk 1,35.45; 6,46; 9,1; Lk 14,1.42; 5,16; 9,18; Joh 6,15) und von seinen Jüngern ersehnt, als er noch bei ihnen war.

12. Als die, die mit ihm auf dem heiligen Berge waren, die Herrlichkeit seiner Verklärung gesehen hatten (Mt 17,2f; Mk 9,1f; Lk 9,33f), war Petrus sofort insofern außer sich und wusste nicht, was er sagte, als er beim Anblick der Majestät des Herrn das allgemeine Wohl in sein persönliches Glück einschließen wollte. Darin aber war er Herr seiner selbst und wusste sehr wohl, was er sagte, als er, nachdem er seine Süßigkeit verkostet hatte (Ps 33,9), es für sich für das beste hielt, immer hier zu sein. Er begehrte dieses Leben in der Gemeinschaft mit dem Herrn und den himmlischen Bürgern, die er bei ihm gesehen hatte, mit den Worten: "Herr, hier ist gut sein für uns. Wir wollen hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elija eine" (Mt 17,4). Wenn er darin erhört worden wäre, hätte er ohne Zweifel nachher drei andere Hütten erbaut, eine für sich, eine für Jakobus, eine für Johannes.


Ursprünge des Eremitenlebens

13. Und nach dem Leiden des Herrn, als die Erinnerung an sein vergossenes Blut noch frisch war und in den Herzen der Gläubigen brannte, begannen Männer das Leben in der Einsamkeit zu wählen, die Armut des Geistes zu befolgen und einander in der fruchtbaren Muße durch geistliche Übungen und in der Betrachtung Gottes zu übertreffen, so dass sich die Wüsten bevölkerten. Unter anderen lesen wir von den beiden Paulus und Makarius, von Antonius, Arsenius und sehr vielen anderen. Sie sind gleichsam konsularische Männer im Staate desheiligen Lebenswandels, hervorragende Namen, Adelige im Staate Gottes. Sie haben den Ehrentitel eines Triumphators wegen des Sieges über die Welt, über den Fürsten dieser Welt und über ihren Körper, wegen der Sorge um ihre Seele und um den Herrn, ihren Gott (Jdt 5,17).

Lasst sie reden

14. Schweigen mögen also die, die in der Dunkelheit über das Licht urteilen und euch der Neuerung beschuldigen, aus dem Überströmen ihres bösen Willens. Sie selber sollten eher als veraltet und eitel getadelt werden. Aber Lobredner und Verleumder werdet ihr immer haben, wie auch der Herr. Die Lobredner lasst unbeachtet. Das Gute das sie an euch lieben, das liebt an ihnen. Die Verleumder überseht und betet für sie. Vergesst, was hinter euch liegt (Phil 3,13). Geht an den Hindernissen vorbei, die euch neben dem Weg zur Rechten und Linken gelegt sind (Ps 139,6). Strebt nach dem, was vor euch liegt (Phil 3,13). Denn wenn ihr jedesmal entweder den Lobrednern antworten, oder mit den Verleumdern streiten wollt, verliert ihr Zeit. Das ist bei einem heiligen Vorhaben kein geringer Verlust. Wer einen aufhält, der von der Erde zum Himmel eilt, schadet ihm doch sehr, auch wenn er ihn nicht festhält.


II. Aufruf zur Demut

Das erhabene Ideal der Brüder

15. Seid nicht nachlässig, seid nicht säumig! Ein weiter Weg steht euch bevor (1 Kön 19,7). Denn erhaben ist euer Beruf. Er übersteigt die Himmel, ist dem Leben der Engel gleich, ähnlich der Reinheit der Engel. Ihr habt nicht nur in jeder Hinsicht die Heiligkeit gelobt, sondern die Vollkommenheit aller Heiligkeit und die Vollendung jeder Vollkommenheit (Ps 118,96). Es ist nicht eure Sache, müde die für alle geltenden Gebote zu erfüllen, und auch nicht, nur darauf zu achten, was Gott befiehlt, sondern was er will, und zu prüfen, was der gute, wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist (Röm 12,2).

16. Andere sollen Gott dienen, ihr aber sollt ihm anhangen. Andere sollen an Gott glauben, von ihm wissen, ihn lieben und verehren. Ihr aber sollt ihn verkosten, innerlich begreifen, erkennen und genießen. Etwas Großes ist das und etwas Schwieriges. Aber der in euch ist, ist allmächtig und gut. Er verspricht in Güte, vergilt in Treue und hilft unermüdlich. Denen, die aus großer Liebe zu ihm Großes versprechen und im Glauben und in der Hoffnung auf seine Gnade Größeres beginnen, als ihre Kräfte gestatten, denen verleiht er den Willen und die Sehnsucht dazu. Der im voraus die Gnade des Willens gibt, fügt auch die Kraft zum Erfolg hinzu. Wenn der Mensch für Gott in Treue getan hat, was er als Mensch konnte, wird Gott selbst, wenn ein Verleumder ihn anklagt, in Barmherzigkeit seinem Armen Recht verschaffen und seine Sache führen, weil der Mensch getan hat, was er konnte (Mk 14,8).


Gefahren: Selbstgefälligkeit

17. Ferne sei dennoch, Brüder, vom Urteil eures Gewissens, von eurer Kleinheit und Niedrigkeit und von eurem Munde jeder Hochmut. Denn von sich hoch zu denken ist der Tod. Leicht kann einer, der sich in der Höhe sieht, schwindelig werden und sein Leben gefährden. Gebt eurem Beruf einen anderen Namen, und einen anderen Titel schreibt auf euer Werk!

18. Haltet euch vielmehr für ungezähmte, wilde Tiere, die in Käfige gesperrt sind, weil sie anders auf gewöhnliche Weise nicht gezähmt werden konnten, und nennt euch so! Schaut auf die Tugend derer, die weit über euch stehen, und bewundert ihren Ruhm, die mit beiden Händen mit größter Tapferkeit kämpfen, wie Aoth, jener Richter Israels, der beide Hände wie die Rechte gebrauchte (Ri 3,15 Vg). Solange es ihnen möglich ist, lieben sie es, in ihrem Inneren mit großer Hingabe für die Liebe frei zu sein, um die Wahrheit zu betrachten. Wenn es aber die Notwendigkeit fordert oder eine Pflicht ruft, wenden sie sich mit größter Bereitschaft der äußeren Tätigkeit zu, ohne in ihr aufzugehen, um die Wahrheit der Liebe zu erfüllen.


Dünkel

19. Hüte dich auch, Diener Gottes, dir den Anschein zu geben, die zu verurteilen, die du nicht nachahmen willst! Ich möchte auch, dass du, immer noch krank, das tust, was jener tat, der sagte, obwohl er der gesündeste war: "Jesus Christus ist gekommen, um die Sünder zu retten, von denen ich der erste bin" (1 Tim 1,15). Denn Paulus sagte das nicht in einer unüberlegten Lüge, sondern in einer richtigen Selbsterkenntnis. Wer sich nämlich in einer ernsten Prüfung selbst erkennt, glaubt, dass keine Sünde seiner Sünde gleichkommt, weil er keine Sünde wie die seine erkennt.

20. Glaube also nicht, dass die Sonne, gemeinsam für alle, nur in deiner Zelle leuchtet, dass es nur bei dir heiter ist, dass die Gnade Gottes nur in deinem Herzen wirksam ist. Ist Gott nur ein Gott der Einsiedler? Er ist vielmehr ein Gott aller Menschen. Denn Gott erbarmt sich aller und er hasst nichts von dem, was er geschaffen hat (Weish 11,24). Du solltest lieber daran denken, dass es überall heiter ist, ausgenommen bei dir, und eher von dir eine schlechte Meinung haben als von allen anderen. 


III. Mahnung zur Beharrlichkeit 

Die Verantwortung der Brüder

21. Wirkt vielmehr mit Furcht und Zittern euer eigenes Heil (Phil 2,12)! Nicht wie die andern sind, sondern wie sie, soweit es an euch liegt, durch euch werden, daran sollt ihr denken; nicht nur an die, die jetzt leben, sondern auch an die, die nach euch kommen, die euch in eurem heiligen Entschluss nachahmen werden. Von euch, von eurem Beispiel, von eurem Ansehen wird in diesem Gebiet die ganze Zukunft dieses heiligen Ordens abhängen. 

22. Deswegen werdet ihr von euren Nachfolgern Väter und Gründer genannt werden, mit der Ehrfurcht, die Nachahmern gebührt. Was immer von euch festgesetzt wurde, was immer durch eure Praxis und Beobachtung zur Gewohnheit wurde, werden eure Nachkommen ohne Zurücknahme einhalten müssen und niemand wird es ändern dürfen. Ihr werdet für eure Nachfolger das sein, was für uns die unabänderlichen Gesetze der höchsten und ewigen Wahrheit sind, die alle erforschen und kennen sollen, die aber niemand in Frage stellen darf. 

23. Gott aber sei Dank, weil es euch zur Ehre und euren Nachkommen zum Nutzen gereichen wird, wenn ihr. das, was ihr inzwischen befolgt, fromm und mutig befolgt, und wenn sie euch in Treue nachahmen. Und wenn es günstig ist, etwas zu ändern, wird Gott euch das offenbaren. Denn unbeschadet der Ehrfurcht, die der Heiligkeit der Kartause 20 in jeder Hinsicht gebührt und die mit allem Lob gepriesen werden muss, ist in jenen schrecklichen Alpen und bei dem ununterbrochenen Frost vieles notwendig, was natürlich in diesen Gegenden für die, die mit Feldfrüchten zu frieden sind und freiwillig die 
Armut befolgen, nicht so notwendig scheint. 


Eifer auf dem Berg Gottes

24. Ihr versteht, was ich sage. Denn der Herr wird euch das Verständnis geben (2 Tim 2,7). Ich freue mich in euch. Mag ich auch körperlich abwesend sein, bin ich doch geistig an- wesend. Und wenn ich eure Ordnung sehe (Kol 2,5), vor allem aber den geistlichen Eifer, die Fülle des Friedens (Ps 42,7), die Gnade der Einfachheit, die Strenge in der Beobachtung der Regel, selbst .die Süßigkeit des Heiligen Geistes in der gegenseitigen Liebe, die in jeder Hinsicht vollkommene Frömmigkeit in eurem Leben, dann frohlocke ich von ganzem Herzen in der Erinnerung an den Berg Gottes. Mit Hingabe verehre ich die Erstlingsfrüchte des Heiligen Geistes (Röm 8,23) und das Unterpfand der Gnade in der Hoffnung, dass das religiöse Leben dort wachsen wird. 

25. Denn der Name "Berg Gottes" selbst ist das Vorzeichen einer guten Hoffnung. Wie nämlich der Psalm vom Berge Gottes sagt, wird dort das Geschlecht derer wohnen, die den Herrn suchen, die das Antlitz des Gottes Jakobs suchen, ein Geschlecht mit unschuldigen Händen und reinem Herzen, das nicht vergeblich seine Seele erhalten hat (Ps 23,3.4.6. Vg). Denn gerade das ist euer Beruf: den Gott Jakobs suchen, nicht in der gewöhnlichen Weise wie alle Menschen, sondern Gottes Antlitz selbst suchen, das Jakob gesehen hat, der sagte: "Ich habe den Herrn gesehen von Angesicht zu Angesicht und meine Seele ward gerettet" (Gen 32,30).



Übergang

26. Denn das Angesicht Gottes suchen, das heißt, Gott zu erkennen suchen von Angesicht zu Angesicht, das Jakob gesehen hat und von dem der Apostel sagt: "Dann werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin. Jetzt sehen wir im Spiegel und im Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht, wie er ist" (1 Kor 13,12). Dieses Angesicht in diesem Leben beständig suchen (Ps 104,4), durch die Unschuld der Hände und durch die Reinheit des Herzens, das ist Frömmigkeit, die, wie Ijob sagt, Verehrung Gottes ist (Ijob 28,28 LXX). Wer diese nicht besitzt, hat seine Seele vergeblich erhalten. Er lebt umsonst oder er lebt überhaupt nicht, weil er nicht das Leben lebt, um dessentwillen er seine Seele erhalten hat, um darin zu leben. 


1. Teil 

Der Sinnenverhaftete Mensch (homo animalis) 

1.Kapitel: Die Zelle und ihre Bewohner   

I. Die Zelle 

Wahre Einsamkeit 

27. Diese Frömmigkeit ist eine beständige Erinnerung an Gott, eine ununterbrochene Aufmerksamkeit, um ihn zu erkennen, eine unermüdliche, liebende Hinwendung zu seiner Liebe, sodass kein Tag - was sage ich? - keine Stunde jemals den Diener Gottes antrifft, in der er sich nicht abmüht in geistlicher Übung und bestrebt ist, Fortschritte zu machen, oder in der ihm nicht die Süßigkeit der Erfahrung Gottes geschenkt wird und die Freude des Genusses. Das ist die Frömmigkeit, zu der der Apostel den geliebten Schüler ermahnt, wenn er sagt: "Übe dich in der Frömmigkeit. Denn körperliche Übung nützt nur wenig. Die Frömmigkeit aber ist zu jedem guten Werke nützlich. Sie hat die Verheißung für das gegenwärtige und das zukünftige Leben" (1 Tim 4,7-8). 

28. Nicht nur die äußere Form der Frömmigkeit, sondern ihre Wahrheit in allem und vor allem verspricht eure Kleidung und verlangt eure Profess. Denn ebenso spricht der Apostel: "Es gibt welche, die den Schein der Frömmigkeit wahren, aber ihre Kraft verleugnen" (2 Tim 3,5). 

29. Wer immer von euch diese Frömmigkeit nicht in seinem Herzen besitzt, nicht in seinem Leben kundtut, nicht in seiner Zelle übt, sollte nicht Einsiedler genannt werden, sondern Einsamer. Die Zelle ist für ihn nicht Zelle, sondern Gefängnis und Kerker. Wirklich einsam ist der, mit dem Gott nicht ist. I n Wahrheit ist jener ein Gefangener, der nicht in Gott frei ist. Denn Einsamkeit und Gefängnis sind Namen des Elends. Die Zelle aber darf in keiner Weise ein erzwungenes Gefängnis sein, sondern sie muss eine Wohnung des Friedens sein. Das verschlossene Tor soll nicht ein Versteck sein, sondern Abgeschiedenheit. 

30. Der nämlich, mit dem Gott ist, ist niemals weniger allein, als wenn er allein ist. Denn dann genießt er in Freiheit seine Freude. Dann gehört er sich selbst, um Gott in sich zu genießen und sich in Gott. I m Lichte der Wahrheit und in der  Heiterkeit eines reinen Herzens wird die Reinheit seines Gewissens von selbst offenbar, und frei entfaltet sich in ihm das Gedächtnis, das von Gott berührt ist. Und es wird entweder der Verstand erleuchtet und die Liebe genießt das Gut, das sie besitzt, oder der Mensch beweint, ohne gezwungen zu werden, sich selbst und das Versagen der menschlichen Schwachheit. 


Zelle und Himmel 

31. Deswegen lebt ihr entsprechend eurer Berufung mehr im Himmel als in den Zellen. Ihr habt die Welt völlig von euch ausgeschlossen und habt euch ganz mit Gott eingeschlossen. Zelle und Himmel sind ja verwandte Wohnungen. Denn wie Himmel und Zelle (caelum - cella) irgendwie verwandte Worte zu sein scheinen, so sind sie auch in der Frömmigkeit verwandt. Von celare (verbergen) scheinen nämlich die Worte Himmel und Zelle abgeleitet zu sein. Was im Himmel verborgen ist, das ist auch in den Zellen verborgen. Was man im Himmel tut, das tut man auch in den Zellen. Worin besteht dieses tun? Es ist ein Frei sein für Gott, ein Genießen Gottes. Wenn das nach der Regel in den Zellen fromm und treu gefeiert wird, wage ich zu sagen, dass die heiligen Engel Gottes in den Zellen wie im Himmel wohnen und sich in den Zellen in gleicher Weise wie im Himmel freuen. 

32. Denn wenn in der Zelle ununterbrochen Himmlisches ausgeführt wird, dann kommt der Himmel der Zelle sehr nahe durch die Ähnlichkeit des Geheimnisses, durch das liebende Ergriffensein der Frömmigkeit und durch die Ausführung des ähnlichen Werkes. Und schon ist der Weg für den Geist, der betet oder sogar aus dem Körper heraustritt, von der Zelle zum Himmel nicht mehr weit und schwierig. Denn man steigt oft von der Zelle in den Himmel auf. Kaum jemals aber steigt man von der Zelle in die Hölle hinab, außer im Sinne des Psalmes: Sie mögen lebend hinabsteigen, damit sie nicht sterbend hinabsteigen (Ps 54,16).

33. Denn auf diese Weise steigen die Bewohner der Zellen oft in die Hölle hinab. Wie sie sich nämlich gerne in beständiger Betrachtung die himmlischen Freuden vor Augen halten, um sie glühender zu erstreben, so auch die höllischen Qualen, um sie zu fürchten und zu meiden. Und das ist es, was sie für ihre Feinde im Gebet erbitten, dass sie lebend in die Hölle hinabsteigen (Ps 54,16). Sterbend steigt kaum jemals einer von der Zelle in die Hölle hinab, weil kaum einer in ihr bis zum Tode verharrt, ohne für den Himmel vorherbestimmt zu sein.


Zelle und Tempel

34. Die Zelle wärmt, ernährt und umarmt den Sohn der Gnade, die Frucht ihres Leibes, und führt ihn zur Fülle der Vollkommenheit, macht ihn würdig des Gespräches mit Gott. Einen Fremden aber oder unechten Sohn weist sie schnell von sich und verwirft ihn. Daher sagt der Herr zu Mose: "Löse die Sandalen von deinen Füßen. Denn der Ort, wo du stehst, ist heiliges Land" (Ex 3,5). Denn ein heiliger Ort oder ein heiliges Land kann nicht lange einen Leichnam von toten Gefühlen ertragen, oder einen Menschen, der im Herzen abgestorben ist (Ps 30,13).

35. Die Zelle ist ein heiliges Land, ist ein heiliger Ort, in dem der Herr und sein Diener oft miteinander sprechen, wie ein Mann mit seinem Freund (Ex 33,11), wo sich die treue Seele oft mit dem Wort Gottes verbindet, sich die Braut mit dem Bräutigam vereint, das Himmlische mit dem Irdischen, das Göttliche mit dem Menschlichen. Wie der Tempel das Heiligtum Gottes ist, so ist die Zelle das Heiligtum des Dieners Gottes.

36. Denn sowohl im Tempel als auch in der Zelle werden die göttlichen Geheimnisse gefeiert; öfter aber in der Zelle. Im Tempel werden sichtbar und zeichenhaft von Zeit zu Zeit die Sakramente des christlichen Glaubens gespendet. In den Zellen aber wird wie im Himmel in derselben Wahrheit und Ordnung, zwar noch nicht in der Majestät der Reinheit selbst und noch nicht in der Sicherheit der Ewigkeit die Wirklichkeit aller Sakramente  unseres Glaubens ohne Unterbrechung gefeiert.

37. Daher stößt die Zelle, wie gesagt, einen Fremden, der nicht Sohn ist, schnell von sich, wie eine Fehlgeburt, speit ihn aus wie eine unnütze und schädliche Speise. Nicht lange kann sie einen solchen in ihrem Innern dulden, da sie eine Schule der Frömmigkeit ist. Es kommt der Fuß des Stolzes und trägt ihn weg; die Hand des Sünders und führt ihn mit (Ps 35,12). Ausgestoßen, vermag er nicht zu stehen, sondern flieht elend, nackt und zitternd, wie Kain vor dem Angesicht des Herrn (Gen 4, 16), ausgesetzt den Lastern und Dämonen, sodass der seiner Seele den Todesschlag versetzt, der ihm zuerst begegnet (Gen 4,14). Wenn er aber eine Zeit lang in der Zelle verharrt, nicht in der Beständigkeit der Tugend, sondern in hartnäckigem Elend, dann ist ihm die Zelle gleichsam ein Kerker oder wie ein Grab für einen Lebenden.


Zelle und Fortschritt

38. Durch die Züchtigung des Verdorbenen wird der Weise weiser (Spr 19,25) und der Gerechte wird seine Hände im Blute des Sünders waschen (Ps 57,11). So spricht also der Prophet: "Wenn du dich bekehrst, Israel, bekehre dich" (Jer 4,1). Das heißt: Besteige den Gipfel der vollkommenen Bekehrung! Niemand ist es nämlich gewährt, lange im selben Zustand zu verweilen (Ijob 14,2). Der Diener Gottes muss entweder voranschreiten oder Rückschritte machen. Entweder strebt er nach oben, oder er wird nach unten gedrängt.

39. Von euch allen wird aber Vollkommenheit verlangt, wenn auch nicht eine gleichförmige. Aber wenn du anfängst, beginne in vollkommener Weise. Wenn du schon im Fortschritt begriffen bist, schreite in Vollkommenheit voran. Wenn du schon eine Stufe der Vollkommenheit erreicht hast, dann nimm an dir selbst das Maß und sprich mit dem Apostel: "Nicht dass ich es schon ergriffen hätte oder vollkommen wäre. Ich folge ihm aber, um es zu ergreifen, weil auch ich ergriffen worden bin. Eines aber mache ich: Ich vergesse das, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt. Dem vorgesteckten Ziele eile ich zu, dem Siegespreis der himmlischen Berufung in Christus Jesus" (Phil 3,12-14).

40. Dann fügt er hinzu: "Wir, die wir vollkommen sind, wollen das bedenken" (Phi! 3,15). I n dieser Lehre des Apostels wird uns klar gezeigt, dass das vollkommene Vergessen dessen, was hinter uns liegt, und das vollkommene Sich-Ausstrecken nach dem, was vor uns liegt, die wirkliche Vollkommenheit des gerechten Menschen in diesem Leben ist und die Vollkommenheit dieser Vollkommenheit dort sein wird, wo der vollkommene Besitz des Siegespreises unserer himmlischen Berufung sein wird.


II. Die Bewohner der Zelle

Drei Stufen

41. Wie sich ein Stern vom andern an Klarheit unterscheidet (1 Kor 15,41), so auch eine Zelle von der andern durch den Lebenswandel, nämlich der Anfänger, der Fortgeschrittenen und der Vollkommenen. Die Stufe der Anfänger kann als sinnenverhaftet (animalis) bezeichnet werden, die der Fortgeschrittenen als verstandesmäßig (rationalis), die der Vollkommenen als geistlich (spiritualis). Verzeihen muss man manchmal in manchen Dingen denen, die noch sinnenverhaftet sind, nicht aber denen, die schon als verstandesmäßig gelten. Wiederum muss man den Verstandesmäßigen manche Fehler nachsehen, die den Geistlichen nicht nachgesehen werden. Denn bei ihnen muss alles vollkommen sein, eher der Nachahmung und des Lobes würdig als des Tadels.

42. Jeder Orden besteht aus diesen drei Arten von Menschen. Wie sie durch eigene Bezeichnungen unterschieden werden, so werden sie auch an der Eigenart ihrer Bestrebungen erkannt. Darum müssen alle Söhne des Tages (1 Thess 5,5) an jedem Tag' immer sorgfältig erforschen, was ihnen mangelt (Ps 38,5), woher sie gekommen sind, wieweit sie gelangt sind und auf welcher Stufe des Fortschritts sie sich an den einzelnen Tagen oder Stunden nach ihrer Selbsterkenntnis befinden.

43. Denn die Sinnenverhafteten sind die, die sich durch ihre Natur und nicht durch die Vernunft leiten lassen, auch nicht von der liebenden Sehnsucht gezogen werden. Doch entweder von einer Autorität bewogen, oder von einer Lehre gemahnt, oder von einem Beispiel angeregt, billigen sie das Gute, wo sie es finden, und folgen gleichsam blind, an der Hand geführt, das heißt: sie ahmen nach. Verstandesmäßig sind die, die durch das Urteil des Verstandes und durch die Unterscheidungsgabe des natürlichen Wissens eine Kenntnis des Guten und ein Verlangen danach haben. Sie haben aber noch nicht die Erfahrung der Liebe. Vollkommen sind, die sich vom Geiste leiten lassen, die vom Heiligen Geist in größerer Fülle erleuchtet werden. Und weil sie Geschmack haben am Guten (saolt), zu dem sie die Regung ihres Herzens hinzieht, werden sie weise genannt (sapientes). 23 Weil sie aber der Heilige Geist umkleidet, wie er einst Gedeon umkleidet hat (Ri 6,34), weil sie wie ein Kleid des Heiligen Geistes sind, werden sie geistlich genannt.


Eine eigene Vollkommenheit

44. Auf der ersten Stufe achtet man auf den Körper, auf der zweiten richtet man sein Augenmerk auf den Geist, auf der dritten findet man seine Ruhe nur in Gott. Wie die einzelnen Stufen eine bestimmte Art des Fortschritts kennen, so haben sie nach ihrer Art ein bestimmtes Maß an Vollkommenheit.

45. Der Anfang des Guten im sinnenverhafteten Lebenswandel ist der vollkommene Gehorsam. Der Fortschritt besteht darin, den Körper zu unterwerfen und dienstbar zu machen. Die Vollkommenheit ist erreicht, wenn die Gewohnheit, Gutes zu tun, sich in Freude verwandelt hat. Der Anfang der verstandesmäßigen Lebensweise ist aber die Erkenntnis dessen, was in der Lehre des Glaubens vorgelegt wird. Der Fortschritt besteht in der Bereitung ähnlicher Speisen, wie sie vorgelegt werden ( Lk 10,8).24 Vollkommen aber ist der vernunftgemäße Mensch, wenn das Urteil des Verstandes sich in liebende 
Zuneigung der Seele verwandelt. Die Vollkommenheit der verstandesmäßigen Stufe ist der Anfang der geistlichen. Ihr Fortschritt ist gegeben, wenn der Mensch mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit Gottes schaut. Vollkommen ist der geistliche Mensch, wenn er in dasselbe Bild verwandelt wird, von Klarheit zu Klarheit, wie durch den Geist des Herrn  (2 Kor 3,18). 
      

2. Kapitel: Der Sinnenverhaftete Mensch oder der Anfänger 

I. Der Anfang des sinnenverhafteten Menschen:
Der vollkommene Gehorsam

Die Stufe des sinnenverhafteten Menschen 

46. Um also zuerst unsere Abhandlung mit der Besprechung der ersten Stufe fortzuführen: Der sinnenverhaftete Zustand des Menschen ist eine Lebensweise, in der der Mensch den Sinnen des Körpers dient. Die Seele ist nämlich durch die Sinne des Körpers gleichsam außer sich, hingegeben an die Freuden, die ihr durch die materiellen Dinge zuteil werden, die sie liebt. Sie erfreut sich an ihrem Genuss und nährt damit ihre Sinnlichkeit. Wenn sie aber in sich zurückkehrt, kann sie die Körper, mit denen sie durch ein festes Band der Liebe und Gewohnheit vereinigt ist, zwar nicht mit sich in den Bereich der unkörperlichen Natur nehmen. Sie zieht aber auch dorthin deren Bilder mit und verkehrt freundschaftlich mit ihnen. 

47. An diese gewöhnt, glaubt die Seele, es gäbe nur das, was sie äußerlich verlassen hat, oder was sie in ihrem Innern mitgenommen hat. Sie hält es für angenehm, so lange wie möglich nach den Genüssen des Körpers zu leben. Wenn sie sich aber von ihnen abwendet, kann sie auch nicht ohne körperliche Bilder denken. Wenn sie sich aber aufrichtet, um geistliche oder göttliche Dinge zu betrachten, kann sie sich diese auch nur vorstellen nach Art von Körpern oder körperlichen Dingen. 


Torheit …

48. Abgewendet von Gott, wird die Seele töricht, weil sie allzu sehr auf sich selber bezogen ist, und sie wird so stumpfsinnig, dass sie entweder nicht geleitet werden will oder kann. Wenn sie aber durch den Stolz von sich allzusehr nach außen gerissen wird, wird sie klug im Sinne des Fleisches (Röm 8,6), und sie scheint sich selber weise zu sein, obwohl sie töricht ist, wie der Apostel sagt: "Sie erklären, daß sie weise sind, sind aber töricht geworden" (Röm 1,22). 


... oder Einfalt 

49. Zu Gott aber hingewendet, wird sie heilige Einfalt. Das ist der immer gleiche Wille, auf das gleiche Ziel gerichtet. So war Ijob, ein einfacher und aufrechter Mann, der Gott fürchtete (Ijob 1,1). Die Einfalt ist im eigentlichen Sinne ein Wille, der vollkommen auf Gott hingelenkt ist, der nur eines vom Herrn erbittet, nur dieses sucht (Ps 26,4) und nicht darauf aus ist, sich in der Welt zu zerstreuen. Die Einfalt ist auch wahre Demut im Lebenswandel, die natürlich                  mehr das Bewusstsein der Tugend als deren Ruf liebt. Denn der einfältige Mann meidet es nicht, in dieser Welt töricht zu erscheinen, um weise zu sein in Gott (1 Kor 3,18). Nochmals: Einfalt ist die ausschließliche Hinwendung des Willens zu Gott. Der Wille ist aber noch nicht von der Vernunft geformt, um verlangende Liebe (amor) zu werden, das heißt geformter Wille. Er ist auch noch nicht erleuchtet, um selbstlose Liebe (caritas) zu werden, das heißt die Seligkeit der Liebe.


Anfang der Weisheit 

50. Die Einfalt besitzt also in sich einen Anfang der Schöpfung Gottes (Jak 1,18), den einfältigen und guten Willen, der gleichsam eine ungeformte Materie von dem ist, was der gute Mensch werden soll. Am Anfang der Bekehrung bietet sie ihrem Schöpfer diese Materie an, damit er sie forme. Sie hat nämlich mit dem guten Willen auch schon einen Anfang der Weisheit, das heißt: die Furcht des Herrn (Ps 110,10). Durch diese erkennt sie, dass sie sich nicht aus eigener Kraft formen kann und dass nichts dem Toren so nützt, wie dem Weisen zu dienen (Spr 11,29).


51. Daher unterwirft sie sich einem Menschen um Gottes willen. Sie überlässt ihm ihren guten Willen, um ihn in zu formen, in der Gesinnung und im Geiste der Demut. Und schon beginnt die Furcht Gottes die ganze Fülle der Tugenden zu bewirken. Durch die Gerechtigkeit unterstellt sie sich einem Oberen. Durch die Klugheit vertraut sie nicht auf sich. Durch die Selbstbeherrschung meidet sie jedes Urteil. Durch die Tapferkeit unterwirft sie sich ganz dem Gehorsam, nicht um ihn zu beurteilen, sondern zu erfüllen. 

52. Das ist nämlich die Gattin, der vom Herrn befohlen wird: „Du wirst dich deinem Mann unterwerfen" (Gen 3,16 LXX). Ihr Mann ist die Vernunft oder der Geist, ihr eigener oder der eines andern. Diesem Mann nämlich gehorcht mit Recht der einfältige und aufrechte Mann in sich selbst, richtiger aber und oft auch sicherer in einem andern als in sich. 


Vollkommener Gehorsam 

53. Nach der Vorschrift des Herrn also und selbst nach der Ordnung der Natur muss sich die Gattin dem Mann rechtmäßig unterwerfen, das heißt: ihm vollkommen gehorchen, ebenso die sinnenverhaftete Seele dem Geist, dem eigenen Geist oder irgendeinem geistlichen Menschen. Der vollkommene Gehorsam kennt aber vor allem beim Anfänger nicht das unterscheidende Nachdenken. Das heißt, er überlegt nicht, was oder wie befohlen wird, sondern er bemüht sich nur darum, treu und demütig auszuführen, was vom Obern befohlen wird. 

54. Der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen im Paradies (Gen 2,10), die Fähigkeit der Unterscheidung, liegt im Ordensleben beim geistlichen Vater, der alles beurteilt, selbst aber von niemand beurteilt wird (1 Kor 2,15). Seine Sache ist es, zu unterscheiden, die der anderen, zu gehorchen. Adam kostete zu seinem Unheil von der Frucht des verbotenen Baumes, aufgefordert von dem, der ihm zuflüsterte: "Warum hat euch Gott geboten, von der Frucht dieses Baumes nicht zu essen? 11 (Gen 3,1) Siehe das prüfende Urteil: Warum das Gebot? Und er fügte hinzu: "Er wusste nämlich, dass euch, an dem Tage, an dem ihr esst, die Augen geöffnet werden und' ihr wie Götter sein werdet" (Gen 3,5). Siehe, warum die Vorschrift: natürlich, weil er nicht wollte, dass sie Götter werden. Adam fragte, aß, wurde ungehorsam und aus dem Paradies verstoßen (Gen 3,6-24). So ist es auch unmöglich, dass ein sinnenverhafteter Mensch, der fragt, ein kluger Novize, ein weiser Anfänger lange in der Zelle verweilen und im gemeinsamen Leben ausharren kann. Er möge ein Tor werden, um weise zu sein (1 Kor 3,18). Und darin bestehe all sein kritischer Geist, dass er in diesem Punkte keinen kritischen Geist besitzt. Das sei seine ganze Weisheit, dass er in dieser Hinsicht keine Weisheit besitzt. 


Die Erkenntnis und ihre Früchte 

55. An dem Punkt, an dem sich das sinnenverhaftete Leben und die Vernunft begegnen, in der Natur der menschlichen Seele, hat der Schöpfer in seiner Güte den Verstand gelassen, und die Begabung und mit der Begabung die Kunstfertigkeit. Damit hat Gott den Menschen über die Werke seiner Hände gestellt und alle Dinge dieser Welt ihm zu Füßen gelegt (Ps 8,7-8): Für den sinnenverhafteten und stolzen Menschen zum Zeugnis seiner natürlichen Würde und der verlorenen Ähnlichkeit mit Gott; für den einfältigen und demütigen Menschen aber als Hilfe, um die Ähnlichkeit mit Gott wieder zu erlangen und zu bewahren. 

56. Dadurch ist das, was von Gott erkennbar ist, unter ihnen offenbar (Röm 1,19). So kommt man durch die Schöpfung zum Glauben an den Schöpfer (Röm 1,20). Darin wird die Gerechtigkeit Gottes erkannt (Röm 1,17) und der Grund, warum die, die gut handeln, des Lebens würdig sind, die aber anders handeln, des Todes würdig sind (Röm 1,32). 

57. Die Schöpfung, die dem Menschen freiwillig für die natürlichen Bedürfnisse dient, unterwirft sich deswegen und passt sich an, um nicht nur für die Notwendigkeit zu dienen, die aus der Sünde kommt, sondern auch für den Willen und für die Lust. 

58. Daher ist es allen offenbar, wie viele und große Dinge, die für dieses Leben notwendig, für Gute und Böse nützlich und in ihrer Art sehr schön sind, von guten und bösen Menschen geschaffen worden sind oder geschaffen werden sollen. 

59. Daher entstanden in Wissenschaft, Handwerk und Baukunst durch die ungezählten, vielfältigen Erfindungen der Menschen so viele Studienfächer, so viele Arten von Berufen, die Feinheiten einer erlesenen Bildung, die Künste der Beredsamkeit, eine Vielfalt von Würden und Ämtern und die ungezählten Erforschungen dieser Welt. Diese Dinge benützen jene Menschen, die die Weisen dieser Welt genannt werden (Röm 1,22; 1 Kor 1.20), in gleicher Weise wie die, die einfältige Kinder Gottes, sind (Phil 2,15) für ihre Bedürfnisse und zu ihrem Nutzen. Jene missbrauchen sie, um ihre Neugier, ihre Lust und ihren Stolz zu befriedigen. Diese aber gebrauchen sie wegen der Notwendigkeit, ihre Freude haben sie wo anders. 

60. Deswegen folgen jenen Menschen, die Sklaven ihrer Sinne und Körper sind, die Früchte des Fleisches: Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifendes Leben, Feindschaften, Streitigkeiten, Eifersucht, Zorn, Wortgefechte, Spaltungen, Neid, Schlemmerei, Trunkenheit und ähnliche Laster. Die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erlangen (Gal 5,19-21). Diesen aber folgen die Früchte des Geistes: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Langmut, Güte, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Keuschheit, Enthaltsamkeit (Gal 5,22-23) und Frömmigkeit, die die Verheißung für das gegenwärtige und zukünftige Leben hat (1 Tim 4,8). 


Das Elend des gefallenen Menschen 

61. Solange beide Arten von Menschen zugleich ihre Handlungen ausführen, sehen die Menschen die gleichen Handlungen. Gott aber unterscheidet Wünsche und Absichten. Wenn aber jeder in sich geht, nährt einen jeden sein Gewissen an den Früchten seiner Absicht. Doch kehren beide nicht in gleicher Weise zum Gewissen zurück. Denn niemand kehrt gerne nach der Tat zu ihm zurück, wenn er von ihm nicht in rechter Absicht zur Tat aufgebrochen ist. 

62. Wer doch zum Gewissen zurückkehrt, findet, wenn er seine Begierlichkeit noch nicht besiegt hat, dort von derselben Begierlichkeit entweder süße Freuden oder schwere Vorwürfe und verweilt dabei mit seinem Denken. Wer aber seine Begierlichkeit schon besiegt hat, leidet, solange eine größere Begierde nach dem wahren Guten oder eine größere Freude daran den Geist noch nicht eingenommen hat, mit einer Art von verhasster Lust an den Vorstellungen dessen, was er getan, gesehen und gehört hat. 

63. Daher sind bei beiden die Lenden voll von Täuschungen der Vergnügungen (Ps 37,8) und, um Geistliches oder Göttliches zu denken, versagt das Licht ihrer Augen (Ps 37, 11). Wer nun gegen die Begierden ankämpft, erleidet Mühen. Er kann seine Neigungen noch nicht vollkommen besiegen. Wer aber schon nach der Freiheit trachtet, kann dennoch die gefühlsmäßigen Vorstellungen noch nicht von sich abschütteln, auch nicht die schädlichen, in Anspruch nehmenden oder müßigen Gedanken, die allenthalben daraus entstehen. 

64. Daher kreisen zur Zeit des Psalmengesanges, des Gebetes und anderer geistlichen Übungen im Herzen des Dieners Gottes bildhafte Vorstellungen und Scheingebilde der Gedanken, auch wenn er sie nicht will und dagegen ankämpft. Von diesen wird wie von unreinen Vögeln, die sich auf ihn setzen oder ihn umflattern, das Opfer der Hingabe entweder gänzlich seiner Hand entrissen, oder doch oft sosehr entstellt, dass der Opfernde in Tränen ausbricht. 

65. Es kommt nun zu einer erbärmlichen und bösen Spaltung in der unglücklichen Seele. Der Geist und die Vernunft suchen sich den guten Willen und die Absicht des Herzens und den bereitwilligen Gehorsam des Körpers zu erhalten. Die sinnenverhaftete Schlechtigkeit raubt sich aber die Ergriffenheit und die Einsicht, und allzu oft bleibt der Geist ohne Frucht. 

66. Daher erklärt sich, dass in den schwächeren Seelen und in solchen, in denen die Begierden des Fleisches und der Welt noch nicht vollkommen abgetötet sind, überall die Laster der Neugierde hervorsprudeln. Daher suchen sie für die Einsamkeit und das Schweigen ungeordnet Tröstungen, die ihrem 
Ordensberuf entgegengesetzt sind: auf der königlichen Straße (Num 21,22) der gemeinsamen Einrichtungen heimliche Abweichungen des Eigenwillens; daher der Geschmack an Neuheiten, der Überdruss am Gewohnten. Diese Versuche scheinen das Jucken und den Ekel der kranken Seele gleichsam durch Abreiben für kurze Zeit zu lindern, aber erwärmen und entflammen sie und bewirken so, dass es im folgenden noch schlimmer brennt und noch mehr juckt. 

67. Daher fängt man täglich neue Beschäftigungen an, erfindet neue Tätigkeiten oder Arbeiten, liest bald dieses, bald jenes Buch, nicht um den Geist zu erbauen, sondern um sich über die Langeweile des träge dahin schleichenden Tages hinwegzutäuschen. Wenn der Einsiedler dann alles Alte und Gewohnte verurteilt hat und Neues fehlt, bleibt nichts mehr übrig als Hass auf die Zelle und baldige Flucht. 


Das große Heilmittel: Gehorsam 

68. Der einfache und fromme Mensch, nämlich der Anfänger im Ordensberuf und in der Einsamkeit, hat weder die Vernunft, die ihn führt, noch die Neigung, die ihn zieht, noch die Unterscheidungsgabe, die ihn leitet. Er muss darum gewissermaßen Gewalt gegen sich selber anwenden und wie der Ton vom Töpfer durch das Gesetz der Vorschriften gleichsam von fremden Händen gebildet und in aller Geduld geformt werden. In der sich drehenden Töpferscheibe des Gehorsams und im Feuer der Erprobung muss er sich dem Willen und Urteil dessen unterwerfen, der ihm Gestalt und Form gibt. 

69. Mag er auch begabt sein, gute Einfälle haben und durch seinen Verstand hervorragen: all das kann Werkzeug sowohl für die Laster als auch für die Tugenden sein. Er möge sich also nicht scheuen belehrt zu werden, wie er dasselbe zum Guten wie zum Schlechten benützen kann. Denn das ist das eigentümliche Werk der Tugend. Die Begabung soll den Körper anpassen, die Kunstfertigkeit soll die Natur formen, der Verstand soll den Geist nicht stolz, sondern gelehrig machen. Denn Talent, künstlerische Begabung, Verstand und anderes dergleichen werden uns als Geschenk zuteil. Nicht so die Tugend. Sie will in Demut gelehrt, mit Mühe gesucht und durch Liebe besessen werden. Da sie all dieser Anstrengungen würdig ist, kann sie anders nicht gelehrt, gesucht oder besessen werden. 


II. Der Fortschritt des sinnenverhafteten Menschen:
Der Körper wird in Dienst genommen

Abtötung des Geistes

70. Zuerst muss also der unerfahrene Bewohner der Wüste nach der Weisung des Apostels Paulus belehrt werden, "seinen Leib als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, als geistigen Gottesdienst" (Röm 12,1). Um die übereilte und neugierige Erforschung der geistlichen und göttlichen Wahrheit zu hemmen - im Anfangseifer des sinnenverhafteten Menschen, der noch nicht erkennt, was Gottes ist (1 Kor 2,14) - fügt der Apostel hinzu: "Denn ich sage allen, die unter euch sind, durch die Gnade, die mir gegeben ist, nicht höher zu denken, als sich geziemt, sondern nüchtern zu denken" (Röm 12,3).


Abtötung des Körpers

71. Die Formung eines jeden, vor allem aber des sinnenverhafteten Menschen, betrifft den Körper und das Verhalten des äußeren Menschen. Darum muss er belehrt werden, vernunftgemäß seine Glieder abzutöten, die irdisch sind (Kol 3,5), und zwischen dem Fleisch und dem Geist, die beständig miteinander kämpfen (Gal 5,17), gerecht und mit Unterscheidungsgabe zu urteilen, ohne in seinem Urteil auf die Person des einen von ihnen zu achten (Röm 2,11).

72. Er soll belehrt werden, seinen Körper wie einen Kranken, der ihm anvertraut wurde, zu betrachten. Diesem müssen unnütze Dinge verweigert werden, auch wenn er sie heftig begehrt, nützliche Dinge aber, auch wenn er sie nicht will, müssen ihm eingeflößt werden. Er soll mit ihm so verfahren, als ob er nicht ihm gehörte, sondern dem, von dem wir um einen hohen Preis losgekauft wurden, um Gott in unserem Leibe zu verherrlichen (1 Kor 6,20).


Festigkeit und Besonnenheit

73. Wiederum muss er belehrt werden, sich vor dem zu hüten, was der Herr durch den Propheten seinem sündigen Volke vorwirft: "Ihr habt mich hinter euren Rücken geworfen" (1 Kön 14,9; Ez 23,35). Besonders muss er sich hüten, zuzulassen, dass der Geist um der Bedürfnisse oder Annehmlichkeiten dieses Lebens willen von der Geradheit der Berufung oder von der Würde der Natur irgendeinmal in irgendeinem Punkte abfällt, um seinen Körper zu ehren und zu lieben.

74. Daher muss man den Körper gewiss härter behandeln, damit er sich nicht empört und überheblich wird; dennoch so, dass er dienen kann, weil er dem Geist gegeben ist, um zu dienen. Und wir dürfen unseren Körper nicht so betrachten, als ob wir seinetwegen leben würden, sondern so, dass wir ohne ihn nicht leben können. Denn die Verbindung, die wir mit dem Körper haben, dürfen wir nicht nach unserem Belieben abreißen, sondern wir müssen geduldig ihre rechtmäßige Lösung abwarten und einstweilen alles beachten, was dieser rechtmäßigen Verbindung entspricht. Wir müssen also so mit ihm zusammenleben, als ob unsere Verbindung nicht lange dauern würde. Wenn es aber anders kommt, sollten wir uns nicht beeilen, von ihm zu gehen.


Das Gut des Gehorsams

75. All das verlangt lange und aufmerksame Mühe Es wäre auch mit einem gefährlichen Irrtum verbunden, wenn nicht das Gesetz des Gehorsams und die Zelle dem Eintretenden ein für allemal eine vollständige Weisung für das gemeinsame Leben geben würde, für Nahrung und Kleidung, für Arbeit und Ruhe, für Schweigen und Einsamkeit und für alles, was zur Pflege und zu den Bedürfnissen des äußeren Menschen gehört, und so dem gehorsamen, geduldigen und ruhigen Bruder für die Zukunft Vorsicht und Sicherheit gewähren würde.

76. Damit ist alles Überflüssige für immer so beschnitten und abgeschnitten, das Notwendige innerhalb der Grenzen des entsprechenden Genügens und der Pfade einer allgemeinen Enthaltsamkeit so umschrieben, dass gültig sei, was die Starken wünschen und wovor die Schwachen nicht zurückschrecken (RB 64,19). Außerdem soll die Menge der Erlaubnisse das Gewissen derer, die sie mit Danksagung benützen (1 Tim 4,4; Röm 14,4), nicht irgendwie verletzen und die Einschränkungen sollen in keiner Weise beim Diener Gottes für die Genügsamkeit eines disziplinierten und gut erzogenen Körpers eine Versuchung darstellen.

77. Hier gilt, was Salomo sagt: "Wer einfältig wandelt, der wandelt sicher" (Spr 10,9). "Wer aber hart von Gemüt ist, wird ins Unglück fallen" (Spr 28,14). Denn die notwendigen Dinge sollen so geordnet sein, dass es in Zukunft nicht den geringsten Anlass zur Klage gibt und dass aller Überfluss abgeschnitten ist. Wenn aber dennoch im Interesse aller oder eines einzelnen etwas hinzugefügt oder genommen werden muss, liegt das im Urteil des Priors ohne irgendein Bedenken oder eine Gefahr für die gehorchenden Untergebenen.


Was die Versuchungen betrifft

78. Der Novize, der ein Einsiedler werden soll, muss also nach der Norm der gemeinsamen Regel angeleitet werden, die Begierden seines Fleisches in beständiger Buße für die vergangenen Sünden zu zähmen. Und um alles übrige zu verachten, soll er zur Verachtung seiner selbst gelangen.

79. Er muss im Voraus beständig geschützt werden gegen die Versuchungen, die einen Einsiedlernovizen heftiger bedrängen. Die Laster hören nicht auf, den Diener Gottes, der Gott freiwillig dient, zu belästigen, indem der Teufel den Lohn des angebotenen Vergnügens vor Augen stellt, das Fleisch aufbegehrt und die Welt begehrenswerte Dinge verspricht. Es versucht uns auch der Herr, unser Gott, um zu prüfen, ob wir ihn lieben oder nicht (Dt 13,3), nicht damit er selber es erkenne, weil er es gleichsam selber nicht wüsste, sondern dass es uns gerade durch die Versuchung besser bekannt werde.

80. Aber jene Versuchungen, die entweder verdächtig sind oder sich beim ersten Anblick als böse offenbaren, lassen sich leicht besiegen, und leicht begegnet man ihnen mit Vernunftgründen. Die sich aber unter dem Anschein des Guten aufdrängen, werden schwieriger erkannt,. und es ist gefährlicher, sich auf sie einzulassen. So ist es sehr schwierig, das rechte Maß zu halten in dem, was man für gut hält, und so ist auch nicht immer jedes Verlangen nach dem Guten sicher.


Die Gefahr des Müßigganges

81. Der Bodensatz aber aller Versuchungen und schlechten und unnützen Gedanken ist der Müßiggang. Denn das größte Übel des Geistes ist die träge Muße. Niemals soll der Diener Gottes müßig sein, mag er sich auch Zeit nehmen für Gott. Denn einen so verdächtigen, eitlen und weichlichen Namen wie "müßig" darf man einer so entschiedenen, so heiligen und so ernsten Aufgabe nicht geben. Ist es müßig, frei zu sein für Gott? Im Gegenteil: das ist höchste Tat. Wenn ein Mensch in seiner Zelle diese Tat nicht treu und eifrig ausführt und wenn er alles, was er tut, nicht deswegen tut, um Gott zu dienen, ist er müßig in dem, was er tut.

82. Müßigen Beschäftigungen nachzugehen, um den Müßiggang zu meiden, ist lächerlich. Müßig aber ist, was entweder keinen Nutzen hat· oder keinen nützlichen Zweck verfolgt. Man soll aber nicht nur so handeln, dass man den Tag mit einiger Freude, oder doch ohne große Langeweile des Müßiggangs verbringt, sondern dass auch aus dem vollbrachten Tagewerk immer etwas für den Fortschritt der Seele im Gewissen verbleibt, dass täglich etwas dem Schatz des Herzens hinzugefügt wird. Der gute Einsiedler soll glauben, dass er an dem Tag nicht gelebt hat, an welchem er sich nicht erinnern kann, etwas von dem getan zu haben, um dessentwillen man in der Zelle lebt.


Handarbeiten

83. Fragst du, was du tun sollst, womit du dich beschäftigen sollst? Vor allem soll außer dem täglichen Opfer des Gebetes oder der Übung der Lesung ein bestimmter Teil des Tages der täglichen Erforschung, Besserung und Ordnung des Gewissens zugewiesen werden.

84. Ferner soll man irgendeine Arbeit ausführen, auch Handarbeit, nicht sosehr deswegen, weil sie den Geist für eine Zeit durch die Freude, die sie bereitet, festhält, sondern weil sie die Freude für die geistlichen Übungen bewahrt und nährt. Bei der Arbeit soll sich der Geist eine Zeitlang erholen, aber nicht schlaff werden. Daher soll er sich leicht frei machen, sobald es ihm gut scheint, zu sich zurückzukehren, ohne Widerspruch des Willens, der an der Arbeit hängt, ohne Befleckung durch die erfahrene Freude oder durch die Bilder der Erinnerung.

85. Denn der Mann ist nicht wegen der Frau geschaffen, sondern die Frau wegen des Mannes (1 Kor 11,9). Geistliche Übungen sind nicht wegen der körperlichen da, sondern die körperlichen wegen der geistlichen. Wie dem Mann nach seiner Erschaffung deswegen eine Hilfe gegeben und bereitet wurde, die ihm ähnlich (Gen 2,18) und aus seinem Wesen genommen ist, so sind auch die körperlichen Übungen notwendig als Hilfe für den geistlichen Eifer. Dennoch scheinen nicht alle körperlichen Übungen in gleicher Weisediesem Ziel zu entsprechen, sondern nur die, die eine größere Ähnlichkeit und engere Verwandtschaft mit den geistlichen Übungen zu haben scheinen. So dient der geistlichen Erbauung die Betrachtung dessen, was geschrieben werden soll, oder zu schreiben, was gelesen werden soll.

86. Denn wie die Übungen und Arbeiten unter freiem Himmel die Sinne zerstreuen, so erschöpfen sie oft auch den Geist, es sei denn, dass schwerere Arbeiten auf dem Felde auch den Körper sehr ermüden und auch eine Zerknirschung und Demütigung des Herzens bewirken. Diese Arbeiten lassen oft durch ihre Plage und Mühe die Bereitschaft zu einer größeren Hingabe entstehen, was bekanntlich auch häufig bei der Mühe des Fastens, der Nachtwachen und aller Übungen der Fall ist, die den Körper hart mitnehmen.


Aszese und Mystik der Arbeit

87. Ein ernster und kluger Geist macht sich für jede Arbeit bereit und lässt sich in ihr nicht zerstreuen, sondern wird durch sie mehr in sich gesammelt. Er hat nicht sosehr das vor Augen, was er tut, als das, was er durch sein Tun beabsichtigt, und er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Ziel aller Vollkommenheit (Ps 118,96). Je ehrlicher er sich darum bemüht, umso eifriger und treuer führt er die Handarbeit aus und unterwirft diesem Ziel alle Kräfte seines Körpers. Die Sinne werden nämlich durch die Zucht des guten Willens auf ein einziges Ziel ausgerichtet, und es steht ihnen nicht frei, von der Last der Arbeit abzuschweifen. Unterworfen und gedemütigt, um dem Geist zu dienen, lernen sie, sich ihm gleich zu formen, sowohl in der Teilnahme an der Arbeit, als auch in der Erwartung des Trostes.


Zurück zur Ordnung der Natur

88. Wenn nämlich die Natur, die durch die Sünde aus der Ordnung geraten und von der Geradheit ihrer ursprünglichen Schöpfung abgewichen ist, sich wieder Gott zugewendet hat, gewinnt sie bald nach dem Maß ihrer Furcht und Liebe, die sie zu Gott hat, alles wieder zurück, was sie, von Gott abgewendet, verloren hat. Und sobald der Geist beginnt, sich nach dem Bild seines Schöpfers zu erneuern, blüht auch das Fleisch wieder auf (Ps 27,7) und beginnt, sich aus eigenem Willen dem erneuerten Geist gleich zu gestalten. Denn sogar gegen seinen Sinn beginnt es, Freude zu finden an all dem, was den Geist erfreut. Wegen des vielfachen Elends, das ihm als Strafe für die Sünde zuteilwurde, dürstet es überdies vielfach nach Gott (Ps 41,2), ja bemüht sich nicht selten, dem Geist, der es leitet, vorauszueilen.

89. Denn die Genüsse verlieren wir nicht, wir übertragen sie nur vom Körper auf die Seele, von den Sinnen auf das Gewissen. Kleienbrot und einfaches Wasser, Kohl oder schlichtes Gemüse sind keineswegs eine köstliche Sache. Es ist aber sehr köstlich, in der Liebe Christi und in der Sehnsucht nach der inneren Freude einen gut disziplinierten Magen mit geringem Aufwand mit solcher Kost zufrieden stellen zu können. Wie viele Tausende von Armen befriedigen mit diesen oder ähnlichen Mitteln genüsslich ihre Natur. Denn es wäre sehr leicht und erfreulich, mit der Würze der göttlichen Liebe nach der Natur zu leben, wenn unser Wahnsinn es uns gestattete. Sind wir von ihm geheilt, findet unsere Natur sofort am Natürlichen Gefallen. Dasselbe gilt auch von der Arbeit. Ein Bauer hat starke Muskeln und kräftige Arme. Die Beschäftigung bewirkt das. Lass ihn untätig sein, so verweichlicht er. Der Wille führt zur Gewohnheit, die Gewohnheit zur Übung, die Übung verschafft die Kräfte für jede Arbeit.


III. Die Vollendung des sinnenverhafteten Menschen:
Die Gewohnheit des Guten, verwandelt in Freude

Tod den Vergnügungen

90. Aber kehren wir zum Gegenstand zurück! Das soll auf jeden Fall sowohl die Arbeit als auch die Freizeit bewirken, dass wir niemals müßig sind. Darum soll unsere Tätigkeit immer darauf gerichtet sein, dass in uns vollkommen verwirklicht wird, was der Apostel den Sinnesmenschen und Anfängern sagt: "Ich rede nach menschlicher Weise um der Schwachheit eures Fleisches willen. Denn wie ihr eure Glieder in den Dienst der Unreinheit und Gottlosigkeit gestellt habt, zur Gottlosigkeit, so stellt nun eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit zur Heiligung" (Röm 6,19).

91. Hören möge das der sinnenverhaftete Mensch, der bis jetzt noch ein willfähriger Sklave seines Körpers war. Dieser, welcher schon beginnt, den Körper dem Geist zu unterwerfen und sich für die Wahrnehmung des Göttlichen zu bereiten, soll sich umgürten, um das Joch der hässlichen Knechtschaft und die beherrschende Gewohnheit seines Fleisches abzuschütteln.

92. Er soll sich Zwang antun gegen den Zwang, Gewohnheit annehmen gegen die Gewohnheit, ein Verlangen in sich erwecken gegen das Verlangen, bis er verdient, den vollen Genuss zu erhalten gegen den Genuss. Nach dem Rat des Apostels soll es ihm wenigstens so viel Freude machen, die Genüsse der Welt und des Fleisches zu entbehren, wie es ihm früher Freude machte, sie zu haben. Es soll ihn so viel erfreuen, mit den Gliedern seines Körpers der Gerechtigkeit zu dienen zur Heiligung, wie es ihn früher erfreute, der Unreinheit und Gottlosigkeit zu dienen zur Gottlosigkeit (Röm 6,19).

93. Das ist nämlich die Vollkommenheit des sinnenverhafteten Menschen in dem Zustand, der ihm eigen ist, oder des Novizen, der ein Anfänger ist. Wenn er aber diesen sinnenverhafteten oder menschlichen (Röm 6,19) Zustand vollendet hat, wenn er nicht zurückschaut (Lk 9,62), wenn er in Treue sich nach dem ausstreckt, was vor ihm liegt (Phil 3,13), wird er bald zu jenem göttlichen Zustand gelangen, dass er beginnt zu ergreifen, wie er ergriffen ist (Phil 3,13), und zu erkennen, wie er erkannt ist (1 Kor 13,12). Dieses Werk wird aber nicht in einem einzigen Augenblick der Bekehrung vollbracht. Es ist nicht Sache eines einzigen Tages, sondern verlangt viel Zeit, viel Mühe und viel Schweiß, entsprechend der Gnade Gottes, der sich erbarmt, und dem Eifer des Menschen, der will und läuft (Röm 9,16).


3. Kapitel: Die Übungen des Einsiedlers

I. Der Rahmen: Die Zelle und ihre Wächter

Notwendigkeit einer Regel

94. Die Werkstatt all dieser Güter ist die Zelle und das beständige Verweilen in ihr. Wer in ihr mit seiner Armut gut zurechtkommt, ist reich.26 Wer guten Willen hat, hat alles bei sich, was er für ein gutes Leben braucht. Dennoch ist es nicht immer förderlich, dem guten Willen zu trauen. Er muss gezügelt und gelenkt werden, vor allem beim Anfänger. Die Regel des heiligen Gehorsams soll den guten Willen lenken, dieser aber den Körper. Er soll ihn lehren, an einem Ort zu verharren, die Zelle zu ertragen und bei sich zu verweilen. Dies ist bei' dem, der Fortschritte macht, Anfang einer guten Einstellung und sicheres Zeichen einer guten Hoffnung.


Beständigkeit

95. Es ist nämlich unmöglich, dass ein Mensch in Treue seinen Geist einem einzigen Gegenstand zuwendet, wenn er nicht vorher seinem Körper die Beständigkeit an einem bestimmten Ort gegeben hat. Wer nämlich der Krankheit des Geistes entfliehen möchte, indem er von Ort zu Ort wandert, gleicht dem, der dem Schatten seines Körpers zu entfliehen sucht. Er flieht vor sich selbst, sich selbst aber nimmt er mit. Er verändert den Ort, nicht aber den Geist. Er findet sich überall als denselben, außer dass die Beweglichkeit selbst seinen Zustand verschlechtert, wie man gewöhnlich einen Kranken verletzt, wenn man ihn herumträgt und schüttelt.

96. Er soll wissen, dass er krank ist, und er soll darum meiden, was seine Krankheit verursacht. Wenn die Ruhe nicht unterbrochen wird, werden die wiederholt angewandten Heilmittel bald einen Fortschritt bringen. Der Geist, der von seinen Entfremdungen und Unfreiheiten geheilt ist, wird in Gott ganz er selbst werden. Eine nicht geringe Pflege verlangt die Natur, die nicht befleckt, sondern angesteckt ist. Er soll darum ruhig in seiner Heilstätte bleiben - so pflegen nämlich die Ärzte den Ort zu nennen, wo Krankheiten geheilt werden – und soll das angewandte Mittel weiterhin einnehmen, bis zum Erweis der Gesundheit.

97. Deine Heilstätte, o kranker und schwacher Mann, ist deine Zelle. Das Heilmittel, mit dem du schon behandelt wurdest, ist der Gehorsam, der wahre Gehorsam. Du sollst wissen, dass häufiger Wechsel der Heilmittel schadet, die Natur stört und den Kranken quält. Wer ein Ziel verfolgt, erreicht das Ziel schnell, wenn er einen einzigen, nämlich den richtigen Weg einhält, und setzt schnell dem Marsch und der Mühe ein Ende. Wenn er aber viele Wege versucht, irrt er herum und setzt der Mühe niemals ein Ende, weil der Irrtum kein Ende hat. Suche also keine Änderung und nimm nicht eine Arznei an Stelle einer anderen, sondern gebrauche das Mittel des heilenden Gehorsams, bis du die vollkommene Gesundheit erlangt hast. Du sollst den Gehorsam nicht undankbar verwerfen, wenn du geheilt bist; gebrauche ihn auch in Zukunft, freilich auf eine andere Weise.


Notwendigkeit eines geistlichen Führers

98. Wenn du also bald gesund werden willst, dann sollst du es nicht wagen, irgendetwas, so geringfügig es auch sein mag, aus Eigenem, ohne Befragen des Arztes zu unternehmen. Wenn du von ihm die Hilfe eines Arztes erwartest, sollst du dich nicht schämen, vor ihm jederzeit dein Geschwür zu entblößen. Schäme dich, aber dennoch enthülle alles und verbirg nichts.

99. Manche erzählen bei ihrem Bekenntnis die Geschichte ihrer Sünden wie eine Fabel. Sie zählen die Krankheiten ihrer Seele ohne Beschämung auf, fast ohne Reue und ohne das Gefühl des Schmerzes. Denn schnell bricht in Tränen aus und eröffnet sich unter Seufzern, wer Schmerz empfindet. Wenn aber zu einer bösen Krankheit noch hoffnungslose Gefühlslosigkeit hinzukommt, weil der Kranke keinen Schmerz empfindet, dann entfernt er sich umso mehr von der Gesundheit, je näher er ihr zu sein scheint.

100. Wenn aber der Arzt zu milde ist, so dass er alles gleichsam mit zu schonenden Salben und Pflastern heilen will, dann handle du in deinem Interesse und, begierig nach einem stärkeren Heilmittel und nach einer schnelleren Genesung, verlange nach dem Messer, fordere das Brenneisen.


Die Wächter der Seele

101. Der Arzt steht dir immer zur Verfügung, er ist bereit. Damit deine Einsamkeit dich nicht erschreckt und damit du sicherer in deiner Zelle wohnen kannst, sind dir drei Wächter zugeteilt: Gott, das Gewissen und der geistliche Vater. Gott schuldest du Frömmigkeit. Ihm sollst du dich ganz zur Verfügung stellen. Deinem Gewissen schuldest du Ehre. Vor ihm sollst du sich schämen zu sündigen. Dem geistlichen Vater schuldest du den Gehorsam der Liebe. Zu ihm sollst du in allen Fragen eilen.

102. Um dir überdies einen Gefallen zu erweisen, werde ich für dich einen vierten Wächter hinzufügen. Solange du ein Kind bist, und bis du vollkommen lernst, an die göttliche Gegenwart zu denken, werde ich dir einen Erzieher besorgen.

103. Wähle dir selbst nach meinem Rat einen Menschen, dessen beispielhaftes Leben so in deinem Herzen wohnt, den du so verehrst, dass du dich jedes Mal, wenn du an ihn denkst, in Ehrfurcht vor ihm erhebst, dich selbst ordnest und sammelst. So als ob er anwesend wäre, möge der Gedanke an ihn in der Zuneigung gegenseitiger Liebe alles in dir bessern, was einer Besserung bedarf, ohne dass deine Einsamkeit einen Schaden an ihrer Abgeschiedenheit nimmt. Er möge bei dir sein und dir beistehen, wann immer du willst. Er soll dir oft begegnen, auch wenn du nicht willst. Der Gedanke an seine heilige Strenge möge dir seine Vorwürfe vergegenwärtigen. Der Gedanke an seine Güte und Milde möge dich trösten. Die Reinheit seines heiligen Lebens soll dir ein Vorbild sein. Denn wenn du dir vorstellst, dass auch alle deine Gedanken von ihm gesehen werden, wirst du dich genötigt fühlen, dich zu bessern, als ob er dich sehen und tadeln würde.


Wachsamkeit

104. So solltest du nach dem Gebot des Apostels sorgsam dich selbst hüten (1 Tim 5,22). Und um dich selbst immer zu sehen, wende die Augen von allen Dingen ab. Ein hervorragendes Werkzeug würde das Auge des Körpers sein, wenn es, wie das übrige, so auch sich selbst sehen könnte. Aber wenn das auch dem inneren Auge zugewiesen ist, so kann dieses doch, wenn es nach dem Beispiel des äußeren Auges sich selbst vernachlässigt und sich den fremden Dingen widmet, nicht zu sich zurückkehren, auch wenn es gerne möchte. Beschäftige dich mit dir selbst! Du bist für dich selbst genügend Gegenstand der Sorge. Beseitige auch von den äußeren Augen, was du dir abgewöhnt hast zu sehen; von den inneren Augen, was du aufgehört hast zu lieben! Denn nichts lebt so schnell wieder auf wie die Liebe, vor allem noch in den zarten und anfangenden Seelen.


II. Geistliche Übungen

105. Wage es auch manchmal, weise zu sein und nach den besseren Gaben zu streben (1 Kor 12,31). Du selbst sollst dir ein Gleichnis des Hausbaues sein.


Die beiden Zellen

Das eine ist deine äußere Zelle, das andere die innere. Die äußere ist das Haus, in dem deine Seele mit deinem Körper wohnt; die innere ist dein Gewissen, das Gott, der innerlicher als dein Innerstes ist,27 gemeinsam mit deinem Geist bewohnen soll. Die Tür der äußeren Klausur ist ein Zeichen für die Tür der inneren Einschließung. Wie die Sinne des Körpers durch die äußere Klausur nicht nach außen schweifen dürfen, so sollen die inneren Sinne immer auf das Innere der Seele gerichtet sein.

106. Liebe also deine innere Zelle, liebe auch die äußere und widme einer jeden die gebührende Pflege. Die äußere soll dich schützen, ohne dich zu verbergen. Du sollst nicht geheimer sündigen, sondern sicherer leben können. Du weißt nämlich nicht, o Bewohner ohne Erfahrung, was du deiner Zelle verdankst, wenn du nicht bedenkst, wie du in ihr nicht nur von deinen Lastern geheilt wirst, sondern auch keine Möglichkeiten hast, mit anderen zu streiten. Du weißt auch nicht, welche Ehre du deinem Gewissen erweisen musst, wenn du in ihm noch nicht die Gnade des Heiligen Geistes und die Süße der inneren Freude erfahren hast.


Gewissenserforschung

107. Erweise also jeder der beiden Zellen die ihnen zukommende Ehre und sichere dir in ihnen deinen Vorrang. Lerne in ihr, dir nach den Gesetzender gemeinsamen Regelvorzustehen, das Leben zu ordnen, die Gewohnheiten zurechtzulegen, dich selbst zu beurteilen, dich bei dir anzuklagen, oft auch zu verurteilen und nicht ungestraft freizulassen. Die Gerechtigkeit soll zu Gericht sitzen, das Gewissen soll schuldig erscheinen und sich selbst anklagen. Niemand liebt dich mehr als du. Niemand wird dich gerechter beurteilen.

108. Am Morgen fordere von dir selbst Rechenschaft über die vergangene Nacht und gib dir eine Regel für den kommenden Tag. Am Abend verlange einen Bericht über den vergangenen Tag und triff eine Verfügung für die anbrechende Nacht. So gebunden, wirst du niemals Zeit haben, ausgelassen zu sein.


Der Gottesdienst

109. Verteile nach der Vorschrift der gemeinsamen Regel die entsprechenden Übungen auf die einzelnen Stunden. In der Stunde, welche dem Geistlichen gewidmet ist, verrichte geistliche Übungen; in der Stunde der körperlichen Arbeit, verrichte körperliche Arbeit. In diesen Übungen soll der Geist jede Schuld vor Gott, der Körper jede Schuld vor dem Geist so einlösen, dass eine Unterlassung, eine Nachlässigkeit, eine Unvollkommenheit je nach Art, Ort und Zeit nicht ungestraft und ungesühnt bleibe.

110. Im übrigen soll man, abgesehen von jenen Stunden, von denen der Prophet mit diesen Worten spricht: "Siebenmal am Tag singe ich dir Lob" (Ps 118,164), vor allem das Opfer des Lobes am Morgen, am Abend und zur Mitternacht mit Eifer darbringen. Denn nicht umsonst sagt der Prophet: "Am Morgen werde ich vor dir stehen und sehen" (Ps 5,5). Denn da sind wir noch frei von äußeren Sorgen.
Ferner: "Wie ein Rauchopfer lass mein Gebet vor dein Angesicht kommen. Meiner Hände Erhebung sei ein Abendopfer" (Ps 140,2). Dann haben wir nämlich die Beschwerden dieser Art gleichsam schon verdaut.

111. Auch in unseren Nachtwachen, zu denen wir uns um Mitternacht erheben, um den Namen des Herrn zu preisen (Ps 118,62), hat er dieselbe Ordnung des Lobpreises angesetzt. Er sagt: "Am Tage meiner Not habe ich Gott gesucht, in der Nacht meine Hände vor ihm - oder: gegen ihn - ausgestreckt, und ich wurde nicht enttäuscht" (Ps 76,3).
Und das Folgende.

112. Denn vor allem zu diesen Stunden müssen wir uns vor Gott stellen, gleichsam von Angesicht zu Angesicht (Gen 32,20), uns im Licht seines Angesichtes betrachten (Ps 88,16), Trübsal und' Schmerz bei uns selbst finden und den Namen des Herrn anrufen (Ps 114,3.4), unseren Geist erregen, bis er sich erwärmt, unablässig auf die Erinnerung an die Fülle der Süßigkeit des Herrn (Ps 144,7) zurückkommen, bis er selbst in unserem Herzen als süß erfahren wird.

113. Dann müssen wir vor allem das Wort des Apostels verwirklichen: "Ich will in der Kirche lieber fünf Worte mit meinem Verständnis sprechen als zehntausend ohne Einsicht" (1 Kor 14,19). Und jenes Wort: "Ich will mit dem Geist lobsingen, ich will auch mit dem Verstand lobsingen. Ich will mit dem Geiste beten, ich will auch mit dem Verstand beten" (1 Kor 14,15). Dann sind nämlich Früchte zu sammeln für den Verstand oder für den Geist, so dass wir uns hierauf entweder in der Fülle des göttlichen Segens zur Ruhe der Nacht begeben, oder, wenn wir uns zum Lob Gottes erheben, der Grundzug all unseres Tuns von diesem Lob Gottes bestimmt und belebt wird.

114. Darum ist es nicht förderlich, in der Vorbereitung der Nachtwachen den Verstand mit einer Vielzahl von Psalmen zu überhäufen und den Geist zu erschöpfen oder auszulöschen. Solange der Geist nüchtern ist, soll er aber zur Andacht gestimmt und auf seinem eigenen Weg zum Herrn geleitet werden, bis das Herz sich weitet (Ps 118,32) und der Geist bis zum Ende des Gottesdienstes zu laufen beginnt. Dann wird er den Schwung seines Eifers behalten, wenn er nicht durch große Nachlässigkeit unterbrochen wird oder durch freiwillige Schwachheit verlorengeht.


Die geistliche Kommunion

115. Jeder aber, der den Sinn Christi (1 Kor 2,16) hat, weiß auch, wie viel es für die christliche Frömmigkeit bedeutet, wie sehr es sich für den Diener Gottes, für den Diener der Erlösung Christi geziemt und wie nützlich es für ihn ist, wenigstens in einer Stunde des Tages die Wohltaten seines Leidens und seiner Erlösung aufmerksamer zu betrachten, um sie in seinem Gewissen süß zu genießen und treu im Gedächtnis zu bewahren. Das heißt geistlich den Leib des Herrn essen und sein Blut trinken, zu seinem Gedächtnis. Das hat er allen, die an ihn glauben, mit diesen Worten aufgetragen: "Tut dies zu meinem Gedächtnis" (Lk 22,19; 1 Kor 11,24).

116. Auch abgesehen von der Sünde des Ungehorsams, ist es allen klar, wie gottlos es ist, wenn ein Mensch solcher Güte Gottes nicht gedenkt, da es doch schon ein Unrecht ist, einen Freund zu vergessen, der doch nur ein Mensch ist, wenn er uns bei seiner Abreise mit irgendeinem Zeichen sein Gedächtnis empfohlen hat.

117. Das Geheimnis dieses heiligen und ehrwürdigen Gedächtnisses nach seiner Art, an seinem Ort und zu seiner Zeit zu feiern, ist freilich nur wenigen Menschen erlaubt, denen nämlich dieser Dienst anvertraut wurde. Die Wirklichkeit dieses Geheimnisses aber können alle zu jeder Zeit, an jedem Ort der Herrschaft Gottes (Ps 102,22), in der Weise, wie es überliefert worden ist (1 Kor 11,23), das heißt in der Haltung der geschuldeten Liebe, feiern, erfahren und zu ihrem Heile aufnehmen, alle, denen gesagt wird: "Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat" (1 Petr 2,9).

118. Denn wie der Würdige das Sakrament zum Leben empfängt, so kann es der Unwürdige zu seinem Tod und Gericht (1 Kor 19,29) entweihen. Die Wirklichkeit des Sakramentes empfängt aber nur einer, der würdig und empfänglich ist. Denn das Sakrament ist für den, der es ohne die Wirklichkeit des Sakramentes empfängt, Tod. Die Wirklichkeit des Sakramentes aber ist für den, der sie empfängt, auch außerhalb des Sakramentes, ewiges Leben.

119. Wenn du aber willst, wenn du wahrhaft willst, steht dir diese Wirklichkeit an allen Stunden des Tages und der Nacht in deiner Zelle zur Verfügung: Sooft du beim Gedächtnis dessen, der für dich gestorben ist (1 Petr 2,21), dich innerlich von Glauben und Liebe für seine Tat erfüllen lässt, isst du seinen Leib und trinkst du sein Blut. Solange du durch die Liebe in ihm bleibst, er aber durch das Wirken seiner Heiligkeit, und Gerechtigkeit in dir bleibt, wirst du zu seinem Leib und zu seinen Gliedern gerechnet.


Geistliche Lesung

120. Ferner muss man sich auch zu bestimmten Stunden einer bestimmten Lesung widmen. Eine zufällige und wechselnde Lesung, die man gleichsam zufällig findet, erbaut nicht, sondern macht die Seele unstet. Leichthin begonnen, entschwindet sie auch leicht aus dem Gedächtnis. Man muss bei bestimmten Autoren verweilen, die Seele muss sich an sie gewöhnen.

121. In dem Geist, in dem die Heilige Schrift verfasst ist, in diesem Geist will sie auch gelesen werden. Im selben Geist muss sie auch verstanden werden. Niemals wirst du in die Gedanken des Paulus eindringen, wenn du nicht durch die Übung der guten Aufmerksamkeit bei der Lesung und durch den Eifer einer beständigen Betrachtung seinen Geist in dich aufnimmst. Du wirst niemals David verstehen, wenn du nicht durch eigene Erfahrung die in den Psalmen ausgedrückten Haltungen annimmst. So auch bei den übrigen. In der ganzen Schrift ist das Studium so weit von der Lesung entfernt, wie Freundschaft von der Aufnahme eines Gastes, brüderliche Zuneigung von einem zufälligen Gruß.

122. Aber von der täglichen Lesung muss auch täglich etwas dem Magen des Gedächtnisses anvertraut werden, damit es besser verdaut wird und, zurückgerufen, häufiger wiedergekäut wird: ein Gedanke. der unserer Berufung entspricht, unserem Vorhaben nützt und den Geist fesselt, damit er nicht Lust hat, an etwas zu denken, was uns fremd ist.

123. Aus dieser beständigen Lesung sollen wir die liebende Zuneigung gewinnen und unser Gebet gestalten, das die Lesung unterbrechen soll. Diese Unterbrechungen sollen aber die Lesung nicht sosehr behindern, als vielmehr den Geist sofort reinigen, damit er die Lesung verstehen kann.

124. Die Lesung dient nämlich der Absicht, in der man liest. Wenn der Leser in der Lesung wahrhaft Gott sucht, dann hilft ihm alles (Röm 8,28), was er liest, zu diesem Ziel, nimmt die Gedanken des Lesers gefangen und unterwirft jedes Verständnis des Textes dem Gehorsam Christi (2 Kor 10,5). Wenn das Denken des Lesers aber zu etwas anderem abweicht, dann zieht es das alles nach sich. Denn er findet in den Schriften nichts, was so heilig und so fromm ist, dass er es nicht entweder durch eitlen Ruhm, durch verkehrtes Denken oder durch falsches Verständnis für seine Bosheit oder Eitelkeit verwenden könnte. Darum muss bei der Lesung aller Schriften die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit sein (Ps 90,10), damit in ihr vor allem die Absicht des Lesers gefestigt werde und aus ihr ein geordnetes Verständnis oder Erkennen des Textes hervorgehe.


III. Körperliche Übungen

125. Von den geistlichen Übungen soll man aber niemals lange oder gänzlich zu körperlichen Übungen übergehen. Der Geist soll sich daran gewöhnen, leicht zu jenen zurückzukehren, und wenn er sich diesen widmet, soll er doch immer gerne bei jenen verweilen. Wie schon oben gesagt worden ist,  ist nicht der Mann wegen der Frau, sondern die Frau wegen des Mannes da, auch sind nicht die geistlichen Dinge wegen der fleischlichen, sondern die fleischlichen wegen der geistlichen da. Körperlich nennen wir nun aber die Übungen, die  durch Handarbeit körperlich ausgeführt werden.


Abtötung des Körpers

126. Aber es gibt auch andere Übungen des Körpers, in denen sich der Körper abmühen muss, wie Nachtwachen, Fasten und anderes dieser Art. Diese behindern die geistlichen Übungen nicht, sondern unterstützen sie, wenn sie mit Vernunft und Maßausgeführt werden. Wenn sie jemand aber maßlos betreibt, sodass sie durch die Erschöpfung des Geistes oder durch das Ermatten des Körpers die geistlichen Übungen behindern, dann hat ein solcher seinem Körper die Wirkung eines guten Werkes genommen, seinem Geist die liebende Hingabe, seinem Nächsten das Beispiel und Gott die Ehre. Er ist ein Frevler und für all das vor Gott verantwortlich.

127. Damit soll nach der Meinung des Apostels (Röm 6,19) nicht gesagt sein, dass nicht auch das menschlich scheine, dass es sich nicht gezieme, nicht sein dürfe und nicht richtig sei, dass der Kopf manchmal im Dienste Gottes schmerzt, der früher oft bis zum Schmerz in der Eitelkeit der Welt arbeitete; dass der Magen hungert bis zum Knurren, der einst oft angefüllt war bis zum Erbrechen. Doch ein Maß muss in allen Dingen eingehalten werden. Der Körper muss manchmal gezüchtigt, er soll aber nicht aufgerieben werden. Denn die körperliche Tätigkeit hat zwar wenig Nutzen, ist aber dennoch nützlich (1 Tim 4,8).

128. Deswegen soll auch in einem geringen Maß für unser Fleisch Sorge getragen werden (Röm 13,14), das heißt: nicht in Begierlichkeit. Diese Sorge soll nüchtern sein, mit einer gewissen geistlichen Disziplin, sodass weder in der Handlungsweise, noch in der Art, noch im Umfang dieser Sorge etwas erscheint, was sich für einen Diener Gottes nicht ziemt.

129. Denn den Gliedern unseres Körpers, die unehrenhaft sind, müssen wir größere Ehre erweisen. Die ehrenhaften aber haben das nicht nötig (1 Kor 12,23-24). Aber nicht nur das, unser ganzes Leben, mag es auch vor den Menschen verborgen sein, müssen wir vor Gott heilig und ehrenhaft erscheinen lassen. Unseren ganzen Lebenswandel müssen wir so führen, dass er für die heiligen Engel sehenswert und erfreulich ist, mag er auch zwischen den Mauern unseres Hauses eingeschlossen sein.

130. Alles soll bei euch mit Anstand geschehen, sagt der Apostel (1 Kor 14,40). Der Anstand ist vor Gott angenehm und den heiligen Engeln lieb. Deswegen befiehlt auch der Apostel, dass die Frauen wegen der Engel einen Schleier tragen (1 Kor 11,10). Diese sind ohne Zweifel immer in euren Zellen anwesend, sie wachen über euch, freuen sich über euren Eifer und sind eure Mitarbeiter. Es gefällt ihnen, wenn bei euch alles mit Anstand geschieht, auch wenn es kein Mensch sieht.


Die Nahrung

131. Wenn ihr also esst oder trinkt oder irgendetwas anderes tut, tut alles im Namen des Herrn (Kol 3,17), fromm, heilig und gewissenhaft. Wenn du isst, soll deine Mäßigkeit deine an sich schon genügend kärgliche Tafel schmücken. Wenn du isst, sollst du keineswegs zur Gänze mit dem Essen beschäftigt sein, sondern, während dein Körper seine Stärkung einnimmt, soll der Geist seine Stärkung nicht völlig vernachlässigen, sondern einen Gedanken von der Güte des Herrn oder ein Wort aus der Heiligen Schrift, das ihn nähren kann, durch Betrachtung oder wenigstens durch einfache Erinnerung in seinem Innern wiederkäuen und verdauen.

132. Aber auch das körperliche Bedürfnis selbst soll nicht in weltlicher und fleischlicher Weise befriedigt werden, sondern wie es sich für einen Mönch geziemt, wie es sich für einen Diener Gottes schickt. Denn auch was die Gesundheit des Körpers betrifft, wird eine Speise umso leichter und heilsamer verdaut, je anständiger und geordneter sie eingenommen wird.

133. Achten soll man also auf die Weise und die Zeit des Essens, auf die Art und Menge der Speisen. Meiden soll man überflüssige und den Geschmack verändernde Gewürze. Beachten soll man die Weise, um nicht beim Essen seine Seele über jede Speise auszugießen (Sir 37,32 Vg); die Zeit, um nicht vor der Stunde zu essen; die Art, um nur dieselben Speisen wie die Gemeinschaft der Brüder zu genießen, ausgenommen der Fall einer offensichtlichen Krankheit.

134. Von den Gewürzen aber möge so viel genügen – ich beschwöre euch - dass unsere Speisen genießbar werden, nicht auch begehrenswert oder geschmackvoll. Es genügt nämlich für die Begierlichkeit ihre eigene Bosheit (Mt 6,34). Diese kann kaum oder auf keine Weise das Ziel erreichen, den Hunger zu stillen, ohne auf dem Weg eines gewissen Genusses. Wenn sie darum beginnt, Reizmittel von denen zu empfangen, die ihren Verlockungen einen beständigen Kampf angesagt haben, dann steht es zwei zu eins, und die Enthaltsamkeit ist in Gefahr.


Der Schlaf

135. Wie wir von der Speise gesprochen haben, müssen wir nun auch vom Schlaf sprechen. Hüte dich, soweit du kannst, Diener Gottes, dass du einmal ganz schläfst, dass dein Schlaf nicht die Ruhe eines müden, sondern das Grab eines erstickten Körpers sei, nicht die Erneuerung, sondern das Auslöschen deines Geistes (1 Thess 5,19). Der Schlaf ist eine verdächtige Sache und zum großen Teil dem Rausch ähnlich. Abgesehen von den Lastern, denen im Schlaf niemand widerspricht, da gemeinsam mit dem Körper auch die Vernunft schläft, was die Verpflichtung zum beständigen Fortschritt betrifft, so geht keine Zeit sosehr für unser Leben verloren, als die, die dem Schlaf gewidmet ist.

136. Wenn du schlafen gehst, sollst du darum immer irgendetwas mit dir in deinem Gedächtnis oder in deinem Denken mitnehmen, einen Gedanken, bei dem du friedlich einschlafen kannst, der dich auch manchmal im Traum erfreuen mag. Er möge dir auch in der Nachtwache wieder begegnen und dich in den Zustand der gestrigen Aufmerksamkeit zurückversetzen. So wird für dich die Nacht wie der Tag erleuchtet, und die Nacht wird deine Erleuchtung sein in deiner Wonne (Ps 138,11). Du wirst ruhig einschlafen, in Frieden ruhen und leicht erwachen. Wenn du dich erhebst, wirst du frisch und munter zu dem zurückkehren, was du nicht ganz verlassen hast.

137. Denn einer nüchternen Speise und einem nüchternen Sinn folgt ein nüchterner Schlaf. Jener fleischliche, schwer lastende Schlaf aber, jener Schlaf der Lethe,30 des Vergessens, wie er genannt wird, muss dem Diener Gottes ein Abscheu sein. Von dem erstgenannten aber kann man nach einer entsprechenden Ruhe die Sinne des Körpers und des Geistes leicht aufrufen und - gleichsam wie der Familienvater die Sklaven des Hauses - zu den für den Geist notwendigen Arbeiten aufwecken und zurückschicken. Ein solcher Schlaf ist zu seiner Zeit und im entsprechenden Maß nicht zu verachten.


Abschluss der Anleitung für einen Novizen

138. So muss sich ein kluger und Gott geweihter Geist in seiner Zelle und in seinem Gewissen verhalten wie ein kluger Familienvater in seinem Haus. Er soll nicht, wie Salomo sagt,  in seinem Haus ein zänkisches Weib haben (Spr 21,9; 25,24),nämlich sein Fleisch, sondern eine Frau, die zur Nüchternheit erzogen und an sie gewöhnt ist, bereit zu Gehorsam und Arbeit, überall geübt, sowohl zu hungern, als auch satt zu sein; sowohl Überfluss zu haben, als auch Mangel zu leiden (Phil 4,12). Er soll die äußeren Sinne nicht als Herren, sondern als Diener gebrauchen, die inneren seien nüchtern und wirksam. Sein Haus oder die Familie seiner Gedanken soll er überhaupt so ordnen und in Zucht halten, dass er zu dem einen sagen kann:. "Geh!" und er geht; zu dem andern: "Komm!" und er kommt; und zu seinem Sklaven, seinem Körper: "Tu das!" und er tut es ohne Widerspruch (Mt 8,9; Lk 7,8).

139. Wer sich selbst in seinem Gewissen so leitet und ordnet, darf ohne Zögern in seiner Zelle sich selber anvertraut und überlassen werden. Aber das ist schon Sache der Vollkommenen oder der vollkommen Voranschreitenden. Wir haben es deswegen den Anfängern und Novizen vorgelegt, dass sie wissen, was ihnen fehlt (Ps 38,5) und worauf sie die Bemühung ihres Eifers richten sollen.


4. Kapitel: Probleme des Einsiedlerlebens

I. Die Wahl des Berufes

140. Man muss aber wissen: wenn wir über das fleischliche oder sinnliche Fühlen, über das vernünftige Wissen oder über die geistliche Weisheit sprechen, beschreiben wir einen und denselben Menschen, in dem man entsprechend seinem Fortschritt, seinem Erfolg und seiner liebenden Aufmerksamkeit alles zu verschiedenen Zeiten finden kann. Diese drei Arten von Menschen führen, jede nach den Eigenheiten dieser Stufen, in den Zellen den Kampf des geistlichen Lebens.


Erste Richtlinie: Sorgfalt

141. Die Würde der Zelle, die Abgeschiedenheit der heiligen Einsamkeit und der Titel eines Einsiedlers scheint nur den Vollkommenen zuzukommen, für die eine feste Speise bestimmt ist, wie der Apostel sagt, deren Sinne durch Gewöhnung geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden (Hebr 5,14). In der Zelle scheint zwar auch der Verstandesmäßige, der dem Weisen nahekommt, irgendwie tragbar zu sein. Sicher aber ist man der Meinung, dass der sinnenverhaftete Mensch, der nicht erfasst, was Gottes ist (1 Kor 2,14), völlig ausgeschlossen werden muss.

142. Aber der Apostel Petrus widerspricht uns, indem er von einigen Menschen sagt: "Wenn sie selbst den Heiligen Geist empfangen haben wie auch wir, wer war ich, dass ich Gott hindern konnte?" (Apg 10,47; 11,17) Denn der Heilige Geist ist der gute Wille. Nicht darf darum einer ohne schwere Bedenken von welcher Höhe der Berufung auch immer abgewehrt werden, dem der gute Wille bezeugt, dass der Heilige Geist in ihm wohnt und ihn zieht.

143. Die Wohnung der Zellen soll nun für zwei Arten von Menschen offenstehen: für die Einfältigen, die durch ihren Sinn und ihr Wollen begierig und fähig erscheinen, die fromme Klugheit zu erlangen; oder für die Klugen, von denen feststeht, dass sie nach der frommen und heiligen Einfalt streben. Der törichte Stolz aber oder die stolze Torheit möge von den Zelten der Gerechten (Ps 117,15) immer fern sein. Es ist aber jeder Stolz töricht, wenn auch nicht jede Torheit stolz ist. Denn die Torheit ohne Stolz wird manchmal als Einfalt erfunden. Wenn sie unwissend ist, ist sie vielleicht gelehrig. Wenn sie nicht belehrt werden kann, kann sie vielleicht gelenkt werden.

144. Eine Ordensgemeinschaft ist der eigentümliche Zufluchtsort für die Einfalt, außer sie will nicht gedemütigt werden, oder sie ist so stumpfsinnig, dass sie nicht geleitet oder gelenkt werden kann. Einen Menschen mit gutem Willen darf man dennoch nicht aufgeben, auch wenn er ohne jedes Verständnis ist. Man soll ihn aber in einem heilsamen Ratschluss zu einem Leben der Arbeit und Tätigkeit verweisen. Der Stolze aber, mag er sich noch so klug vorkommen, soll sich selber überlassen und vertrieben werden. Wenn nämlich ein Stolzer aufgenommen wird, beginnt er am ersten Tag, an dem er eintritt, Gesetze zu geben. Der allzu Törichte aber kann die Gesetze nicht lernen, die er vorfindet.


Zweite Richtlinie: Klugheit

145. Man soll also sorgfältig und klug abwägen, wer zugelassen wird, um bei sich zu wohnen. Wer nämlich bei sich wohnt, hat nur sich selbst, wie er ist, bei sich. Ein böser Mensch wohnt also niemals in Sicherheit bei sich, weil er mit einem bösen Menschen wohnt, und niemand ist ihm beschwerlicher als er sich selbst. Die Wahnsinnigen aber oder die Schwerkranken und die, die aus irgendeinem Grund ihres Geistes nicht genügend mächtig sind, pflegt man zu bewachen und nicht sich selber zu überlassen oder anzuvertrauen, damit sie nicht ihre Einsamkeit zum Schlechten missbrauchen.

146. Man möge also den sinnenverhafteten Menschen, wenn sie demütig und arm im Geiste sind, gestatten, in den Zellen des Klosters zu wohnen, mit dem Ziel, dass sie verstandesmäßig und geistlich werden, nicht damit sich diese, die das schon zu sein verdienten, ihretwegen selbst zurückwenden (1 Tim 5,15) und sinnenverhaftet werden. Sie mögen mit allem Wohlwollen der Liebe aufgenommen werden. Sie mögen in aller Geduld der Güte ertragen werden. Doch die mit ihnen Mitleid haben, sollen sich nicht ihnen angleichen. Sie sollen so deren Fortschritt suchen, dass sie nicht ihretwegen gezwungen werden, in der Strenge ihres Ordenslebens nachzulassen.


II. Der Bau der Zellen

147. Denn es hat sich schon die Gewohnheit eingeschlichen, mit fremdem Geld kostspielige und, soweit wir uns nicht doch schämen, prunkvolle Zellen zu bauen. Wir haben die heilige Einfachheit verworfen, die, wie Salomo sagt (Sir 7,16 Vg), vom Höchsten geschaffen ist, bauen uns als Ordenshäuser Wohnungen, die uns Ehre einbringen. Damit haben wir den sinnenhaften Menschen so viel nachgegeben, dass wir alle in diesem Punkt fast sinnenverhaftet geworden sind.

148. Wir haben von uns und unseren Zellen die Form der Armut entfernt, die uns unsere Väter als Erbe hinterlassen haben, und den Anblick einer heiligen Einfachheit, die wahre Zierde des Hauses Gottes. Durch die Hand erlesener Künstler haben wir uns nicht so sehr eremitische als aromatische Zellen (Zellen, die von Wohlgerüchen duften) erbaut, jede um den Preis von hundert Goldstücken, eine Lust für die Augen, mit dem Almosen der Armen (Sir 4,1).

149. Nimm, Herr, die Schande der hundert Goldstücke von den Zellen deiner Armen! Warum bauen sie nicht eher um hundert Denare? Warum nicht eher umsonst? Warum bauen sich die Söhne der Gnade nicht vielmehr kostenlos selbst ihre Wohnungen? Welche Antwort erhielt Mose, als er das Bundeszelt vollenden sollte? "Siehe", sagte der Herr, "du sollst alles nach dem Vorbild ausführen, das dir auf dem Berg gezeigt wurde" (Hebr 8,5; Ex 25,40).

150. Schickt es sich etwa, dass das Zelt Gottes mit den Menschen (Offb 21,3) von Weltmenschen gebaut wird? Die sollen es selbst für sich bauen, denen auf der Höhe des Geistes die wahre Zierde des Hauses Gottes (Ps 25,8) gezeigt wird. Die sollen es selbst für sich bauen, denen die Sorge um ihr Inneres Verachtung und Vernachlässigung aller äußeren Dinge gebietet. Die Form der Armut, den Anblick heiliger Einfachheit und nüchterne Linienführung der Väter wird nicht sosehr die Kunstfertigkeit als die Nachlässigkeit der Künstler hervorbringen.


Notwendige Armut

151. Ich beschwöre euch darum bei der Pilgerschaft durch diese Welt, bei diesem Kriegsdienst auf der Erde (Ijob 7,1): Bauen wir uns nicht Häuser zum Wohnen, sondern Zelte zum Verlassen (Jer 35,9-10)! Denn schnell müssen wir abberufen werden, um in die Heimat zu wandern, in unsere Stadt, in das Haus unserer Ewigkeit (Koh 12,5). Wir leben ja in einem Lager, wir kämpfen in einem fremden Land. Was natürlich ist, ist leicht. In dem, was uns fremd ist, haben wir Mühe. Ist es etwa nicht leicht für einen Einsiedler, genügt es nicht der Natur. und entspricht es nicht dem Gewissen, sich selbst eine Zelle aus Zweigen zu bauen, aus Lehm zu bilden, sie nach allen Seiten abzudichten und so sehr schicklich darin zu wohnen? Warum sollen wir noch mehr suchen?

152. Glaubt doch, Brüder - möchte euch doch diese Erfahrung zuteilwerden! - dass diese Schönheiten und dieser äußere Glanz schnell das männliche Vorhaben entkräften und den männlichen Geist verweiblichen. Denn wenn deren Freuden auch oft durch den Gebrauch selbst ihren Reiz verlieren, wenn es auch welche gibt, die die Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht (1 Kor 7,31), so werden Neigungen dieser Art doch eher durch Verachtung als durch Gebrauch ausgerottet und besiegt.

153. Die äußeren Dinge tragen auch nicht wenig bei für unser inneres Leben, wenn sie nach der Ähnlichkeit des Geistes gemacht und gestaltet sind, wenn sie einem guten Vorhaben auf ihre Art entsprechen. Denn eine ärmlichere Lebensweise zügelt bei den einen die Begierde, bei andern macht sie die Seele geneigt, die Armut zu lieben.

154. Doch für einen Geist, der dem inneren Leben zugewandt ist, geziemt es sich mehr, dass alle äußeren Dinge ungepflegt und vernachlässigt sind. Daran erkennt man, dass dieser Geist, mag er auch Bewohner des Hauses sein, sich öfter anderswo aufhält, und die heilige Absicht verrät, dass sie anderswo mehr beschäftigt ist. In wirksamer Weise bringt der das innere Leben mit dem guten Gewissen in Einklang, der anzeigt, dass ihm alles Äußere wertlos geworden ist.

155. Ich beschwöre euch also, jene allzu eleganten Zellen mögen bleiben, so wie sie gebaut sind, aber ihre Zahl soll nicht zunehmen. Sie sollen als Krankenzellen für die sinnenverhafteten und eher kranken Brüder verwendet werden, bis sie gesund werden, das heißt: bis sie nicht mehr nach Zellen für Kranke verlangen, sondern nach Zellen von solchen, die im Lager des Herrn kämpfen. Sie sollen auch als Beispiel für eure Nachkommen bleiben, dass ihr solche Zellen zwar gehabt, aber verachtet habt.


III. Der Lebensunterhalt des Einsiedlers

Das Beispiel der Väter in der Frühzeit

156. Ihr aber, die ihr geistlich seid, wie die Hebräer, das heißt Vorübergehende, die hier keine bleibende Stätte haben, sondern die künftige suchen (Hebr 13,14), baut euch, wie ihr begonnen habt, Hütten, in denen ihr wohnen könnt. Denn in Hütten wohnten unsere Väter (Hebr 11,9-16). Sie wohnten im Land der Verheißung wie in einem fremden Land mit den Miterben der Verheißung und erwarteten eine Stätte mit fester Grundlage, deren Gründer und Künstler Gott ist. Sie erlangten die Verheißungen noch nicht, sondern sahen und begrüßten sie aus der Ferne und bekannten, dass sie Fremde und Pilger seien auf der Erde. Denn die das behaupten, erklären, dass sie eine bessere Heimat suchen, nämlich die himmlische.

157. Darum suchten unsere Väter in Ägypten und in der Thebais dieses heilige Leben leidenschaftlich nachzuahmen, lebten in der Wüste, erlitten Not und Bedrängnis (Hebr 11,37). Ihrer war die Welt nicht würdig (Hebr 11,38). Sie bauten sich selbst Zellen, hatten nur ein Dach und eine Umzäunung und wurden so vor Sturm und Regen geschützt. Darin hatten sie Überfluss an den Freuden eines einfachen Einsiedlerlebens, machten viele reich, während sie selbst in Armut lebten (2 Kor 6,10).

158. Mit welchen Namen ich sie würdiger ansprechen soll, weiß ich nicht: Soll ich sie himmlische Menschen oder irdische Engel nennen? Sie lebten auf der Erde, aber ihr Wandel war im Himmel (Phil 3,20). Sie arbeiteten mit ihren Händen. Von ihrer Arbeit ernährten sie die Armen, während sie selbst hungerten. Von der einsamen Wüste aus ernährten sie die Gefangenen und Kranken in den Städten und unterstützten alle, die sich in irgendwelchen Nöten befanden. Zugleich lebten sie von der Arbeit ihrer Hände und wohnten in Häusern, die sie mit der Arbeit ihrer Hände erbaut hatten.


Das Recht, von Almosen zu leben

159. Was werden wir zu diesem Vorbild sagen, die wir zwar nicht sinnenverhaftete Menschen sind, aber doch irdische Lebewesen, die wir an der Erde und an den Sinnen des Fleisches hängen, die wir im Sinne des Fleischeswandeln (2 Kor 10,3; Kol 2,18) und von fremden Händen abhängig sind?

160. Gewiss tröstet uns darin ein wenig jener, der, obwohl er reich war, für uns arm wurde (2 Kor 8,9) und der das Gebot der freiwilligen Armut gegeben hat (Lk 12,33; Mt 6,24; 19,23; Lk 18,33). Er hat sich gewürdigt, uns in seiner Person ein Beispiel dieser Armut zu geben. Damit die Armen, die nach dem Evangelium leben, wissen, was sie tun sollen, wollte er selbst von den Gläubigen ernährt werden (Lk 10,38; Joh 12,2), manchmal auch von den Ungläubigen. Er lehnte es nicht ab, von ihnen das Lebensnotwendige anzunehmen, um sie zum Glauben zu führen (Lk 5,30; 7,36; 15,2; 19,5).

161. Aber auch in der Urkirche hatten die heiligen Armen für Christus den Verlust ihrer Güter erlitten (Hebr 10,34), oder sie hatten nach dem Gebot der Vollkommenheit alles verlassen (Lk 11,41; 12,33) und verkauft und alles mit der brüderlichen Gemeinschaft der Gläubigen geteilt (Apg 2,44-45). Mit welcher Sorge und mit welcher Liebe die heiligen Apostel dafür eintraten, dass die Armen ihren Lebensunterhalt von den Gläubigen erhielten, zeigen deutlich das Buch der Apostelgeschichte und Paulus in seinen Briefen (Apg 11, 29; 1 Kor 16,1-4; 2 Kor 8.9).

162. Wenn diese Lebensweise auch gerade durch ein Gebot und eine Anordnung des Herrn vorzüglich denen gewährt wird, die das Evangelium verkünden (1 Kor 9,14), wird sie dennoch durch das Ansehen der Apostel auch denen nicht verweigert, die nach dem Evangelium leben, wie jenen heiligen Armen, die es damals in Jerusalem gab. Diese werden auch deswegen heilige Arme genannt, weil sie gelobt hatten, in einem gemeinsamen Leben nach Heiligkeit zu streben, und sich selbst gerade deswegen arm gemacht hatten.

163. Wenn nun der Apostel mit großer Strenge gewissen Leuten erklärt: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen" (2 Thess 3,10), zeigt er sofort auf, von wem er spricht. Denn er fährt fort: "Wir haben nämlich gehört, dass einige unter euch unruhig leben, nicht arbeiten, sondern unnütze Dinge treiben. Solche aber ermahnen und beschwören wir im Herrn  Jesus Christus in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr eigenes Brot zu essen" (2 Thess 3,11-12). Ihr eigenes? Das heißt: das Brot, das sie durch ihre Arbeit verdient und erworben haben. Mochten diese Leute auch sehr unruhig sein, nichts arbeiten und unnütze Dinge treiben, so war doch der Name des Herrn über ihnen angerufen (Apg 15,17; Jer 14,9). Damit es darum nicht scheine, er habe sie gleichsam im Stich gelassen und verstoßen, fügt er sofort hinzu: "Ihr aber, Brüder, werdet nicht müde, Gutes zu tun" (2 Thess 3,13); in Christus Jesus, unserem Herrn, als ob er sagen wollte: Wenn sie auch in ihrer Nachlässigkeit verharren, sollt ihr dennoch in eurer Wohltätigkeit nicht müde werden, sie zu unterstützen.


Die Dispens von der Handarbeit

164. Der Apostel erklärt also zuerst sehr streng, dass die nicht essensollten, die nicht arbeiten wollen. Dann aber zeigt er sich ein wenig milder denen gegenüber, die nicht arbeiten. Darum könnten wir nach dem Sinn dieser Stelle sagen, ohne gänzlich von der Wahrheit abzuweichen, dass jene Strenge denen gilt, die nicht wollen, obwohl sie könnten; die Nachsicht aber denen, die zwar wollten, aber nicht können. Weil er aber auch diese im Herrn Jesus Christus ermahnt und beschwört, in Ruhe ihr Brot zu essen, scheinen sie nicht ihr Brot zu essen, außer sie machen es zu ihrem Brot, dadurch dass sie arbeiten, soweit sie arbeiten können, nach dem Zeugnis Gottes und ihres Gewissens (2 Kor 1,12).

165. Verzeih, Herr, verzeih! Wir entschuldigen, wir suchen Ausflüchte, aber niemand kann sich vor dem Licht deiner Wahrheit verbergen (Ps 18,7). Wie es die erleuchtet, die sich ihm zuwenden, so trifft es auch die, die sich abwenden. Nicht ist verborgen vor dir unser Gebein, das du geformt hast, verborgen vor den Menschen (Ps 138,15). Wir aber verbergen es vor uns selber. Denn kaum einer möchte in dem, was dich betrifft, erfahren, was er kann. Er kann es aber sehr leicht, sobald ihn, was das Fleisch oder die Welt betrifft, entweder die Furcht bedrängt oder die Begierde zieht. Aber wenn wir auch unwissende Menschen täuschen, so gestatte nicht, dass wir uns selbst täuschen, indem wir gleichsam dich täuschen wollen. Wir arbeiten nicht, weil wir entweder nicht können oder weil es uns scheint, dass wir nicht können, oder weil wir infolge der Gewohnheit des Nichtstuns und des Vergnügens uns zur Arbeit unfähig gemacht haben.

166. Lasst uns also anbeten und niederfallen und weinen vor dir, der du uns geschaffen hast (Ps 94,6), der du uns infolge unserer offenkundigen Sünde in deinem verborgenen Gericht dazu geschaffen hast, dass wir vielleicht nicht können, weil wir es nicht wirklich wollen, oder dass wir, weil wir nicht wollten, als wir konnten, dann nicht können, wenn wir wollen. Lasst uns wenigstens nach der Strafe Adams unser Brot essen, wenn wir es schon nicht im Schweiße unseres Angesichts (Gen 2,17-19) können, so doch im Schmerz unseres Herzens, in den Tränen des Schmerzes, wenn schon nicht im Schweiße der Arbeit. Diesen großen Verlust unserer Berufung möge die Liebe und die Hingabe eines gedemütigten Gewissens ersetzen. Unsere Tränen mögen unser Brot sein bei Tag und bei Nacht, solange man unserer Seele sagt: "Wo ist dein Gott?" (Ps 41,4) Das heißt: Solange unsere Seele auf der Pilgerfahrt fern vom Herrn, ihrem Gott, ist, fern vom Lichte seines Angesichtes.

167. Eines freilich wäre notwendig (Lk 10,42). Wir aber, die wir weder auf das Eine ausgerichtet sind, noch uns im Vielen abmühen, zu welchem Stand werden wir gerechnet  werden? Hoffentlich zu dem, von dem der Apostel sagt:"Dem, der keine Werke tut, sondern an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet nach dem Ratschluss der Gnade Gottes" (Röm 4,5 Vg). Würden wir doch wie jene Sünderin beurteilt werden, der viel vergeben wurde, weil sie viel geliebt hat (Lk 7,47)! Und glücklich die Seele, die nach diesem Urteil beim Herrn verdient hat, gerechtfertigt zu werden nach der Beurteilung derer, die den Namen des Herrn lieben (Ps 118, 132), so dass diese Seele jede Gerechtigkeit, die von Werken kommt, und jedes Vertrauen auf Verdienste aufgibt und in dem allein gerechtfertigt wird, dass sie viel geliebt hat. Denn in der Liebe zu dir, 0 Gott, ist für das liebende Gewissen deine Liebe selbst ein großer Lohn (Sir 12,2), dann aber das ewige Leben.

168. So beschwöre ich euch, Brüder, entschuldigen wir uns nicht, sondern klagen wir uns an und bekennen wir! Wenn wir bei den Menschen "den Schatten eines großen Namens" (Lukan, De bello civili I 135) und den Anschein einer gewissenpersönlichen Vollkommenheit erlangt haben, dann wollen wir vor Gott die Armut unseres Gewissenserkennen und niemals von der Wahrheit abweichen. Und die Wahrheit wird uns befreien (Joh 8,32).


5. Kapitel: Anleitung zum Gebet

169. Im folgenden muss der sinnenverhaftete Anfänger, der junge Soldat Christi, belehrt werden, wie er sich Gott nähern kann, damit sich ihm Gott nähert. So mahnt nämlich der Prophet: "Nähert euch Gott, dann wird er selbst sich euch nähern" (Jak 4,8). Denn der Mensch muss nicht nur geschaffen und geformt werden, sondern auch belebt. Zuerst hat Gott nämlich den Menschen geformt, dann hauchte er in sein Angesicht den Atem des Lebens, und so wurde der Mensch zum lebenden Wesen (Gen 2,7). Die Formung des Menschen ist die moralische Erziehung, sein Leben aber ist die Liebe Gottes.

170. Diese empfängt der Glaube, gebiert die Hoffnung, formt und belebt die göttliche Liebe (caritas). die der Heilige Geist ist. Denn die Liebe Gottes, oder die Liebe, die Gott ist, der Heilige Geist, ergießt sich in die Liebe des Menschen und in seinen Geist und macht ihn sich zu eigen. Indem Gott sich selbst im Menschen liebt, vereinigt er ihn mit sich, sowohl seinen Geist, als auch seine Liebe. So wie nämlich der Körper nur von seinem Geist das Leben empfängt, so lebt auch die Zuneigung des Menschen, die Liebe genannt wird, nicht, das heißt: sie liebt Gott nicht, außer diese Liebe ist vom Heiligen Geist.


Lesung und Meditation

171. Die Liebe Gottes, die im Menschen durch die Gnade erzeugt ist, erhält also als Nahrung Milch durch die Lesung, feste Speise durch die Meditation, Stärkung und Erleuchtung durch das Gebet. Um das innere Leben des sinnenverhafteten Menschen, der noch neu ist in Christus (2 Kor 5,17), zu erwecken, kann ihm nichts Besseres und Sichereres zur Lesung und Meditation vorgelegt werden als das äußere Leben unseres Erlösers. An ihm soll das Beispiel der Demut aufgezeigt werden, die Aufforderung zur Liebe und die Gesinnung der Frömmigkeit; ebenso von den Heiligen Schriften und von den Abhandlungen der heiligen Väter die moralischen und verständlicheren Teile.

172. Man soll ihn auch die Taten oder Leiden der Heiligen lesen lassen. Er soll sich aber dabei nicht zu viel Mühe auf der geschichtlichen Ebene geben. Immer soll ihm etwas begegnen, was den Geist eines Anfängers zur Liebe Gottes und zur Verachtung seiner selbst anregt. Andere Geschichten unterhalten zwar den Leser, aber erbauen ihn nicht. Sie vergiften vielmehr den Geist und bewirken, dass zur Zeit des Gebetes oder der geistlichen Meditation alle möglichen unnützen oder schädlichen Gedanken aus dem Gedächtnis hervorsprudeln. Denn gewöhnlich folgt der Art der Lesung eine ähnliche Meditation. Auch ermüdet die Lesung schwieriger Schriften, sie erquickt nicht einen schwächeren Geist, sie stört die Aufmerksamkeit und macht das Gefühl oder den Geist stumpf.


Das innere Gebet

173. Man muss ihn auch lehren, im Gebet sein Herz zu erheben (Klgl 3,41), geistlich zu beten und sich von der körperlichen Welt oder von körperlichen Bildern, wenn er an Gott denkt, möglichst weit zu entfernen. Er soll auch ermahnt werden, sich mit möglichster Reinheit des Herzens dem zuzuwenden, dem er das Opfer seines Gebetes darbringt. Der Opfernde soll auf sich selbst achten und bedenken, was und wie beschaffen sein Opfer ist. Wieweit er nämlich den sieht und erkennt, dem er opfert, soweit liebt er ihn auch und die Liebe selbst ist für ihn Verstehen. Und in dem Maße, in dem er liebt, findet er Geschmack an seiner Opfergabe - wenn sie Gottes würdig ist (Mich 6,6) - und er ist darin glücklich (Ps 127,2; Jer 7,23; 32,39).

174. Es ist, wie schon gesagt, besser und sicherer, einem solchen Menschen, der betet oder meditiert, das Bild der Menschheit des Herrn vor Augen zu stellen, seine Geburt, sein Leiden und seine Auferstehung. So hat der schwache Geist, der sich nur die körperliche Welt vorstellen kann, einen Gegenstand, dem er sich zuwenden kann, bei dem er auf seine Weise mit dem Blick der Liebe verweilen kann. In diesen Geheimnissen erscheint der Herr in seiner Eigenschaft als Mittler. Wenn der Mensch in ihm sein eigenes Bild aufsucht, sündigt er nicht, wie man bei Ijob lesen kann (Ijob 5,24). Denn wenn er seinen aufmerksamen Blick auf ihn richtet, wenn er sich Gott in menschlicher Gestalt vorstellt, weicht er keineswegs von der Wahrheit ab. Da er durch den Glauben Gott nicht vom Menschen trennt, kann er lernen, Gott einmal im Menschen zu begreifen.

175. Dabei ist für gewöhnlich für die Armen im Geiste, für die einfältigeren Kinder Gottes am Anfang das Gefühl umso süßer, je näher es der menschlichen Natur ist. Dann aber, wenn der Glaube zur Liebe geworden ist, umfangen sie im Innern ihres Herzens in einer süßen Umarmung ihrer Liebe Christus Jesus, ganz Mensch wegen der Annahme der menschlichen Natur, und ganz Gott, weil Gott die menschliche Natur angenommen hat. Sie beginnen dann, ihn schon nicht mehr dem Fleische nach zu kennen, wenn sie ihn auch als Gott noch nicht vollkommen denken können (2 Kor 5,16). Indem sie ihn in ihrem Herzen heilig halten, bringen sie ihm in Liebe ihre Gelübde dar, die ihre Lippen zum Ausdruck brachten (Ps 65,14): inständiges Flehen, Gebete, Bitten, wie Zeit und Umstände sie nahelegen.


Verschiedene Arten des Gebetes

176. Es gibt nämlich verschiedene Gebete. Die einen sind kurz und einfach, wie sie der Wille oder die Not des Betenden nach dem jeweiligen Ereignis formt. Die anderen sind länger und verstandesmäßig. Es sind das die Gebete von Menschen, die in der Erforschung der Wahrheit bitten, suchen und anklopfen, bis sie erhalten, finden und bis ihnen aufgetan wird (Mt 7,7). Wieder andere sind feurig, voll geistlicher Eingebung und fruchtbar. Sie kommen aus der Liebe dessen, der Gott genießt, und aus der Freude über die erleuchtende Gnade.

177. Es sind das die Gebete, die der Apostel in einer anderen Reihenfolge anführt: inständiges Flehen, Gebete, Bitten und Danksagungen (1 Tim 2,1). Denn wir setzen die Bitte an die erste Stelle. Sie bezieht sich auf die Erlangung irgendwelcher zeitlicher und notwendiger Dinge dieses Lebens. Dabei prüft Gott den guten Willen des Bittenden und wirkt dennoch das, was er selbst für besserhält. Er gibt aber auch dem, der in rechter Weise bittet, dass er gerne seinem Willen folgt. Von dieser Bitte spricht auch der Psalmist: "Denn mein Gebet erflehte bis jetzt, was ihnen gefällt" (Ps 140,5). Das heißt: Was auch den gottlosen Menschen gefällt. Diese Bitte ist nämlich allen gemeinsam, am meisten aber ist es die Bitte der Kinder dieser Welt. Sie wünschen sich die Ruhe des Friedens, die Gesundheit des Körpers, günstige Witterung und anderes, was das Bedürfnis und die Notwendigkeit dieses Lebens betrifft, und sogar das Vergnügen derer, die das Leben missbrauchen. Die nun vertrauensvoll darum bitten, mögen sie das auch nur aus Notwendigkeit erbitten, unterwerfen doch gerade darin ihren Willen dem Willen Gottes.


Das inständige Flehen

178. Das inständige Flehen ist ein ängstliches Drängen zu Gott hin während der geistlichen Übungen. Wer dabei, bevor die Gnade kommt, um zu helfen, das Wissen mehrt, mehrt nur den Schmerz (Koh 1,18).


Das Gebet

179. Das Gebet aber ist eine liebende Zuwendung des Menschen, der Gott anhängt, ein vertrautes und frommes Gespräch, ein Verweilen des erleuchteten Geistes, um Gott zu genießen, solange es möglich ist.


Die Danksagung

180. Die Danksagung aber ist in der Erfahrung und Erkenntnis der Gnade Gottes die unermüdliche und dauernde Hinwendung des guten Willens zu Gott, auch wenn die äußere Handlung oder die innere Zuneigung einmal nicht vorhanden oder gelähmt ist. Von ihr spricht der Apostel: "Das Wollen liegt mir nahe, aber das Vollbringen des Guten finde ich nicht" (Röm 7,18). Er sagt damit gleichsam: Sie ist zwar immer da, aber manchmal liegt sie am Boden, das heißt, sie ist unwirksam, weil ich das Vollbringen des Guten suche, aber nicht finde. Das ist die Liebe, die niemals aufhört (1 Kor 13,8).

181. Das ist aber jenes Gebet ohne Unterlass, oder jene  Danksagung, von der der Apostel spricht: "Betet ohne Unterlass! Seid immer dankbar!" (1 Thess 5,17-18) Dieses Gebet kommt aus einer beständigen Güte des Herzens, eines wohlgeordneten Geistes und ist bei den Söhnen Gottes ein Abbild der Güte Gottes, des Vaters. Eine solche Seele betet immer für alle (Kol 1,9) und dankt Gott bei allem (1 Thess 5,18). Der fromme Sinn ergießt sich beständig auf so viele Weisen im Gebet oder in der Danksagung vor Gott, wie viele Gründe er in seinen Nöten und Tröstungen, oder auch in Mitleid und Mitfreude mit dem Nächsten findet. Dieses Gebet ist ganz und beständig Danksagung. Denn wer so ist, ist immer in der Freude des Heiligen Geistes.


Anleitungen

182. Beim Bittgebet muss man also fromm und vertrauensvoll beten. Man darf aber nicht hartnäckig am Gegenstand der Bitte hängen bleiben. Denn nicht wir wissen, was uns in diesem zeitlichen Leben nötig ist, sondern unser himmlischer Vater (Mt 6,8.32).

183. Bei den inständigen Gebeten muss man aber beharren, doch in aller Demut und Geduld, weil sie nur in Geduld Frucht bringen (Lk 8,15). Manchmal nämlich, wenn die Gnade nicht besonders schnell zu Hilfe kommt, dann wird der Himmel für den Flehenden ehern und die Erde eisern (Dt 28,23). Wenn dann die Härte des menschlichen Herzens sich selbst überlassen ist und sie nicht verdient, nach Wunsch erhört zu werden, glaubt der sehnsüchtig verlangende Mensch in seiner Angst, es werde ihm verweigert, was aufgeschoben wird. Wie jene Kananäerin stöhnt er, weil er glaubt, er werde übergangen und verachtet. Er stellt sich vor, seine früheren Sünden würden wie der Schmutz des Hundes angerechnet oder vorgeworfen (Mt 15,22-28).

184. Manchmal empfängt der, der nicht ohne Mühe bittet; er sucht und findet; er klopft an und es wird ihm aufgetan, und die Mühe eines inständigen Gebetes verdient endlich einmal, Trost und Süßigkeit des Gebetes zu erlangen.

185. Manchmal wird auch das Erlebnis des reinen Gebetes und jene angenehme Süßigkeit der Liebe nicht von uns gefunden, sondern es ist gleichsam so, dass sie uns findet. Ohne dass der Mensch bittet, sucht und anklopft, fast ohne dass er es weiß, kommt ihm die Gnade zuvor. So wird gleichsam die Schar der Sklaven zum Tisch der Söhne zugelassen, wenn der noch unerfahrene Geist des Anfängers zu dieser Hochstimmung des Gebetes erhoben wird, die gewöhnlich als Lohn für die Heiligkeit den Verdiensten. der Vollkommenen gegeben wird. Das geschieht, dass entweder der Nachlässige zu seiner Verurteilung wohl weiß, was er vernachlässigt, oder dass die Herausforderung der Liebe in ihm die Liebe entflamme, die die Gnade von selbst darbietet.

186. Darin täuschen sich leider viele, dass sie glauben, schon Söhne zu sein, weil sie das Brot der Söhne essen(Mt 15,26). Sie lassen nach, wo sie Fortschritte machen sollten. Nach der Heimsuchung der Gnade verlieren sie ihre Gewissenhaftigkeit. Sie glauben, etwas Zl:J sein, obwohl sie nichts sind (Gal 6,3). Die Gaben Gottes bewirken nicht ihre Besserung, sondern ihre Verhärtung. Sie werden denen gleich, von denen der Psalm sagt: "Die Feinde des Herrn haben ihm geschmeichelt und ihre Zeit wird ewig dauern. Er nährte sie mit dem Mark des Weizens und sättigte sie mit Honig aus dem Felsen" (Ps 80, 16-17). Obwohl Sklaven, werden sie dennoch von Gott Vater manchmal mit dem kostbareren Brot der Gnade genährt, damit sie danach streben, Söhne zu sein. Sie aber missbrauchen die Gnade Gottes und werden Feinde. Sie missbrauchen sogar die Heilige Schrift in ihren Sünden und Begierden, indem sie nach dem Gebet zu ihnen zurückkehren und jenes Wort der Gattin des Manue auf sich anwenden: "Wenn der Herr uns töten wollte, hätte er das Opfer aus unseren Händen nicht angenommen" (Ri 13,23).


2. Teil

Der verstandesmäßige und der geistliche Mensch

1. Kapitel: Vom Anfänger zum Vollkommenen

Zusammenfassung der drei Stufen

187. "Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerscharen, in denen der Sperling sein Haus findet und die Turteltaube ihr Nest, wohin sie ihre Jungen legt" (Ps 83,2.4). Der Sperling, sage ich, ist ein von Natur aus fehlerhaftes Wesen, wankelmütig, leichtfertig, lästig, geschwätzig, geneigt zur Lust. Die Turteltaube hingegen liebt die Traurigkeit, wohnt gerne allein an einem schattigen Ort, ist ein Bild der Einfalt, ein Vorbild der Keuschheit. Jener findet dort ein ruhiges und sicheres Haus, diese für sich ein Nest, wohin sie ihre Jungen legen kann.

188. Was stellen diese Lebewesen anderes dar als die von Natur aus heißblütige Jugend und ihren glühenden Geist, ihr wankelmütiges Alter, ihre unruhige Neugierde. Andererseits aber die Reife des Mannes, einen ernsten, keuschen und nüchternen Geist, überdrüssig der äußeren Dinge, in sich soweit als möglich gesammelt.

189. Von diesen findet der eine in den Wohnungen des Herrn der Heerscharen, nämlich in dem geordneten Leben in einer Zelle, fern von allen Lastern Ruhe, beständigen Schutz und sicheren Aufenthalt. Der andere aber findet in der Abgeschiedenheit der Zelle einen ruhigeren Ort für sein Gewissen, um die Früchte seiner heiligen Gefühle und die Erfahrungen seiner geistlichen Kontemplation zu bergen und zu nähren. Der einsame Sperling auf dem Dach (Ps 101,8), das heißt: auf der Höhe der Kontemplation, liebt es, die Wohnung seines fleischlichen Lebens mit den Füßen zu treten. Die Turteltaube findet ihre Fruchtbarkeit in den Niederungen und freut sich an den Früchten der Demut.

190. Denn die Vollkommenen und Geistlichen, die mit dem Namen der Turteltaube bezeichnet werden, demütigen sich immer durch die Tugend des Gehorsams und der Unterwerfung und erniedrigen sich zu dem, was Sache der Anfänger ist, um ihre Tugend zu festigen und zu stärken. Indem sie unter sich hinabsteigen, steigen sie über sich hinauf und indem sie sich selbst demütigen, schreiten sie mehr voran. Sie glauben nicht, wegen der Früchte der Einsamkeit, welche die häufigen und erhabenen Entrückungen der Kontemplation sind, eine gewissenhafte, freiwillige Unterwerfung, die Teilnahme am gemeinsamen Leben und die Süßigkeit der brüderlichen Liebe vernachlässigen zu dürfen.

191. Der geistliche Mensch gebraucht sogar seinen Körper in geistlicher Weise. Daher verdient er von ihm einen Dienst, der nicht mit Gewalt erzwungen ist wie beim sinnenverhafteten Menschen, oder durch Gewohnheit erreicht ist wie im Falle des verstandesmäßigen Menschen, sondern gleichsam natürlich gewährt wird. Während die letzteren nur einen Gehorsam aus Notwendigkeit kennen, gehorcht er aus Liebe. Jene besitzen die Tugenden nur mit Mühe, ihm aber sind sie schon zur Gewohnheit geworden.

192. Jene Sperlinge Gottes streben nach oben, nach dem, was Sache der Vollkommenen ist, nicht in stolzer Anmaßung, sondern in kindlicher Liebe und in der Armut ihres Geistes. Sie werden nicht als überheblich zurückgestoßen, sondern wegen ihrer Frömmigkeit aufgenommen und manchmal verdienen sie das zu erfahren, was die Geistlichen genießen. Sie trachten immer danach, das tätige Leben derer nachzuahmen, deren kontemplativen Trost sie zu erlangen wünschen.

193. So gehen sie ihren Weg im gleichen Geiste, wenn auch nicht im selben Schritt; und sie machen in gleicher Weise Fortschritte, die Geistlichen im Niedrigen, die Anfänger in den Höhen. Und das sind die heiligen Beziehungen, die in wohl geordneten Zellen stattfinden, die ehrwürdigen Bemühungen, die geschäftige Muße, die mühevolle Ruhe und die geordnete Liebe (Hld 2,3): indem sie beide schweigen, sprechen sie miteinander; sie sind voneinander getrennt, aber erfreuen sich mehr aneinander; sie schreiten voran, der eine mit der Hilfe des anderen; obwohl sie sich nicht sehen, sieht der eine am andern, was nachzuahmen ist, an sich selber aber nur, was zu beweinen ist.

194. Ich aber, wie der Prophet sagt, ein Mann, der seine Armut sieht (Klgl 3,1), erröte und seufze bei mir selbst, wenn  ich die Schätze der anderen zusammenzähle. Denn ich wollte lieber an mir erfahren, was ich für andere darstelle. Denn von zwei Übeln ist es das erträglichere, nicht zu sehen, was man liebt, als es zu sehen und nicht zu haben. Dennoch ist es nicht so bei den Gütern des Herrn. Denn die Güter des Herrn sehen, heißt sie lieben, sie lieben aber heißt sie besitzen. Darum wollen wir uns bemühen, soweit wir können, sie zu sehen. Durch das Sehen wollen wir sie verstehen, durch das Verstehen lieben, damit wir sie durch das Lieben besitzen. Herr, danach ist vor dir all meine Sehnsucht, und mein Seufzen ist vor dir nicht verborgen (Ps 37,10).


2. Kapitel: Der Verstandesmäßige Mensch oder der Fortschreitende

I. Die Vernunft, die sich für Gott öffnet,
der Anfang des Verstandesmäßigen Menschen

Vorbemerkungen

195. Wenn wir von der Stufe des sinnenverhafteten Menschen zum verstandesgemäßen übergehen, um vom verstandesgemäßen zum geistlichen überzugehen, wenn wir darüber schreiben und hoffentlich darin auch Fortschritte machen, müssen wir vor allem bedenken, dass die Weisheit, wie wir im Buche, das diesen Namen trägt, lesen können, denen zuvorkommt, die nach ihr verlangen (Weish 6,14), dass sie ihnen entgegeneilt und freundlich auf allen Wegenerscheint (Weish 6,17). Das gilt für den Fortschritt, die Betrachtung und das Studium. Denn sie durchdringt alles wegen ihrer Reinheit (Weish 7,24). Gott hilft (Ps 45,6) nämlich mit seinem Angesicht dem, der ihn schaut, er bewegt ihn und regt ihn an. Die Schönheit des höchsten Gutes zieht den an, der es betrachtet.

196. Wenn die Vernunft voranschreitend zur Liebe emporsteigt und die Gnade zum Menschen der Liebe und Sehnsucht herabsteigt, dann geschieht es oft, dass Vernunft und Liebe, die diese beiden Stufen bewirken, eins werden, und auch das, was von ihnen bewirkt wird, nämlich Weisheit und Wissen. Und sie können nun nicht mehr getrennt behandelt oder gedacht werden, da sie schon eins sind und das Ergebnis einer Tätigkeit und einer Tugend sind, sowohl im Verstehen des Erkennenden, als auch in der Freude des Genießenden. Wenngleich der eine vom andern zu unterscheiden ist, muss dennoch, wenn die Sache sich so darbietet, der eine mit dem andern und im andern gedacht und behandelt werden.

197. Wie also im Fortschritt des religiösen Lebens – wir haben oben schon davon gesprochen - der sinnenverhaftete Mensch über seinen Körper wacht, um das äußere Leben zu ordnen und für die Übung der Tugend zu bereiten, so muss der verstandesmäßige Mensch sich um den Geist kümmern, ihn hervorbringen, wenn er noch fehlt, ihn ausbilden und ordnen, wenn er schon vorhanden ist. Vor allem muss man überlegen, wer oder was der Geist selbst ist, den die Vernunft zu einem vernünftigen macht; dann, was die Vernunft selbst ist, die ein sterbliches Lebewesen, dadurch dass sie es vernünftig macht, zu einem Menschen macht. Aber zuerst müssen wir von der Seele sprechen.


Die vernunftbegabte Seele

198. Die Seele (anima) ist ein unkörperliches Wesen, fähig der Vernunft und dazu bestimmt, dem Körper Leben zu geben. Sie bewirkt, dass die Menschen beseelt sind (animales), Geschmack finden an den Dingen des Fleisches und von den Sinnen des Körpers abhängig sind. Sobald die Seele aber beginnt, nicht nur empfänglich für die vollkommene Vernunft zu sein, sondern ihrer auch teilhaftig, legt sie sofort das Zeichen des weiblichen Geschlechtes ab und wird der Geist (animus), der an der Vernunft teilhat, der geeignet ist, den Körper zu leiten, der sich selbst besitzt. Solange er noch Seele ist, wird er schnell weiblich, indem er sich dem zuwendet, was fleischlich ist. Der Geist aber trachtet nach dem, was männlich oder geistlich ist.

199. Denn der Geist des Menschen ist geschaffen mit Scharfsinn im Streben nach dem Guten und mit einer Natur, bereit zur Tat. Er steht an der Spitze der von der schöpferischen Weisheit geschaffenen Dinge. Er überragt die materielle Schöpfung, ist leuchtender als jedes körperliche Licht und würdiger, weil er ein Abbild des Schöpfers ist und fähig, die Vernunft aufzunehmen. Dennoch wurde er, verstrickt in die Sünde des fleischlichen Ursprungs, Sklave der Sünde und gefangen genommen unter dem Gesetz der Sünde, das in den Gliedern ist (Röm 7,23). Dennoch verlor er nicht gänzlich die Entscheidungsfähigkeit, das heißt das Urteil des Verstandes, das abschätzt und unterscheidet, wenngleich er seine Freiheit im Wollen und Tun verloren hat.

200. Denn zur Strafe für die Sünde und zum Zeugnis für die verlorene natürliche Würde ist ihm die Entscheidungsfähigkeit gelassen, wenn auch als eine gefangene, als ein Zeichen. Er kann sie auch vor der Bekehrung und Befreiung des Willens niemals zur Gänze durch irgendeine Abkehr des Willens verlieren. Auch wenn er sie missbraucht, indem er das Böse an Stelle des Guten wählt, ist er durch sie, wie gesagt, besser und würdiger als die ganze materielle Schöpfung, sowohl in sich, als auch in der Kunst der schöpferischen Wahrheit.

201. Der Wille aber wird befreit, wenn er Liebe wird, wenn die Liehe Gottes ausgegossen wird in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben wird (Röm 5,5). Und dann ist die Vernunft wirklich Vernunft, das heißt eine Haltung des Geistes, die in allem mit der Wahrheit übereinstimmt. Wenn nämlich der Wille durch die befreiende Gnade befreit ist und der Geist durch die freie Vernunft geleitet zu werden beginnt, dann ist er Herr seiner selbst, das heißt, er gebraucht sich selber in Freiheit, er wird Geist (animus) und guter Geist (bonus animus). Geist, insofern er sein Lebewesen (animal) gut belebt (animans) und vollendet durch die Ergänzung der freien Vernunft. Gut aber, insofern er schon sein eigenes Gut liebt, durch das er gut wird und ohne das er weder gut noch Geist sein kann.

202. Der Geist wird aber gut und vernünftig, wenn er den Herrn, seinen Gott, aus ganzem Herzen liebt, mit seiner ganzen Seele, mit seinem Sinn und mit allen seinen Kräften, sich selbst aber nur in Gott und seinen Nächsten wie sich selbst (Lk 10,27). Der Geist wird gut, wenn er Gott fürchtet und seine Gebote beobachtet. Denn das ist der ganze Mensch (Koh 12,13).


Die Vernunft

203. Die Vernunft aber ist, wie sie von denen, die definieren, definiert wird, oder beschrieben wird von denen, die beschreiben, "der Blick des Geistes, in dem er durch sich selbst, nicht durch einen Körper die Wahrheit schaut, oder die Schau der Wahrheit selbst", 36 oder die Wahrheit selbst, die geschaut wird, oder das vernünftige Leben, oder der vernünftige Gehorsam (Röm 12,1), durch den man sich der geschauten Wahrheit angleicht.

204. Die Überlegung (ratiocinatio) aber ist ein Suchen der Vernunft, das heißt eine Bewegung ihres Blickes durch die Dinge, die erblickt werden sollen. Die Überlegung sucht, die Vernunft findet. Wenn dieser Blick die Sache, auf die er gerichtet ist, sieht, ist er Wissen; wenn er sie nicht sieht, ist er Unwissenheit für den Menschen.

205. Das ist also die Vernunft: sowohl Werkzeug, durch das sie wirkt, als auch Werk, das sie bewirkt. Sie übt gerne ihre Tätigkeit im Bereich des Nützlichen und Ehrenhaften aus. Durch Übung vervollkommnet sie sich, durch Trägheit aber ermattet sie in sich selbst.


Die Vernunft und Gott

206. Es gibt aber keine würdigere und nützlichere Betätigung für den Menschen, der die Vernunft besitzt, als die, die das einsetzt, was er als das Bessere besitzt, durch das er die übrigen Lebewesen und die übrigen Teile seines Seins überragt, was eben sein Verstand oder Geist ist. Für den Verstand aber oder für den Geist, dem das übrige Sein des Menschen zur Leitung unterworfen ist, gibt es nichts Würdigeres zu suchen, nichts Süßeres zu finden, nichts Nützlicheres zu besitzen als allein das, was den Geist selbst überragt, was allein Gott ist.

207. Er ist nicht fern von einem jeden von uns. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir (Apg 17,27-28). Wir leben aber im Herrn, unserem Gott, nicht wie in dieser Luft, sondern im Glauben; in ihm bewegen wir uns, in ihm schreiten wir voran durch die Hoffnung; in ihm sind wir, das heißt bleiben wir und sind wir gefestigt durch die Liebe.

208. Von ihm nämlich und für ihn ist der vernünftige Geist geschaffen, dass sich sein Verlangen auf ihn richtet (Hld 7,10), dass er selbst sein Gut sei. Der Geist aber ist nur gut durch Teilnahme an jenem Gut. Er ist nach dessen Bild und Ähnlichkeit geschaffen (Gen 1,26). Das bedeutet, dass er, solange er hier lebt, dem durch die Ähnlichkeit so weit als möglich nahekommen soll, von dem er sich nur durch die Unähnlichkeit entfernt; dass er hier heilig ist, wie jener heilig ist (1 Joh 3,3) und in der Ewigkeit selig sein wird, wie jener selig ist.

209. Schließlich ist allein das groß und gut, wenn der große und gute Geist des Menschen zu dem aufblickt, was über ihm ist, es bewundert und nach ihm verlangt, wenn das treu ergebene Abbild sich bemüht, seinem Urbild ähnlich zu werden. Denn er selbst ist das Bild Gottes und deswegen, weil er Bild ist, wird ihm das Verständnis zuteil, dass er dem, dessen Bild er ist, anhangen 37 kann und muss.

210. Wenn er darum auch auf Erden den ihm anvertrauten Körper leitet, liebt er es dennoch, mit dem besseren Teil seiner selbst, nämlich mit seinem Gedächtnis, seinem Verstand und seiner Liebe immer dort zu weilen, von wo er nach seiner Überzeugung alles, was er ist und was er hat, empfangen hat (1 Kor 4,7). Und er darf hoffen - insofern in diesem Punkt dem Menschen Hoffnung gegeben ist -, dass er auf ewig dort bleiben und mit der vollen Gottesschau auch die volle Ähnlichkeit erlangen wird, wenn er es nicht vernachlässigt, sein Leben der guten Hoffnung anzugleichen.

211. Darauf richtet sich sein Blick, von dort ist er abhängig. Er verweilt mehr bei den Menschen deswegen, um sie mit dem Leben Gottes zu beleben, um die göttlichen Dinge zu suchen und zu erfassen, als um dieses sterbliche und menschliche Leben zu leben.

212. Wie er nämlich den Körper, den er beseelt, in seiner natürlichen Haltung zum Himmel aufrichtet, der durch seine Natur, seine Stellung und seine Würde alle Orte und Körper überragt, so pflegt er, selbst von geistlicher Natur, sich immer zu dem aufzurichten, was im geistlichen Bereich überragt, nämlich zu Gott und zu den göttlichen Dingen. Er tut das nicht in stolzer Gesinnung, sondern in kindlicher Liebe, durch ein nüchternes, gerechtes und frommes Leben (Tit 2,12). Je höher das ist, wonach der Geist strebt, mit umso größeren Anstrengungen muss er sich üben. Diese Übungen sollen ihn nicht äußerlich überströmen, sondern innerlich durchtränken. Sie sollen ihn so ergreifen, dass sie ihn vollkommen machen.


II. Der Fortschritt des Vernunftgemäßen Menschen:
Das Leben in der Tugend

Die Studien des Vernunftgemäßen

213. Wenn diese Bemühungen auch manchmal durch Bücher unterstützt werden und wenn man sich auch ihrer bedient, so sind sie doch nicht literarischer Art. Es geht nicht um Spitzfindigkeiten, Diskussionen und Geschwätz, sondern um ein geistliches Wissen, um friedliche und demütige Übungen, die zu demütigen Menschen passen. Wenn diese Übungen auch äußerlich ausgeführt werden, so ist es doch eher ein innerliches Tun im geistigen Bereich, wo' der Mensch sich erneuert (2 Kor 4,16), wenn er den neuen Menschen anzieht, der nach Gott geschaffen ist in der Heiligkeit und Gerechtigkeit der Wahrheit (Eph 4,23-24).

214. Hier nämlich bildet sich der Geist, hier formt sich die gute Einsicht für alle, die danach handeln (Ps 110,10). Hier werden wir nach der vom Apostel erteilten Weisung belehrt,  "uns in allem als Diener Gottes zu erweisen, durch große Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Mühen, in Nachtwachen, im Gefängnis" der Zelle, "im Fasten, durch Keuschheit, mit Weisheit, mit Langmut, mit Freundlichkeit, mit dem Heiligen Geiste, mit ungeheuchelter Liebe, mit dem Wort der Wahrheit, mit der Kraft Gottes, durch die Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, bei Ehre und Schmach, bei schlechtem und gutem Ruf, als Verführer betrachtet und doch wahrhaft, als unbekannt und doch bekannt, wie sterbend, und siehe wir leben, als gezüchtigt und doch nicht getötet, wie betrübt und doch immer freudig, wie arm und doch viele bereichernd, wie nichts habend und doch alles besitzend" (2 Kor 6,4-10); "in Mühsal und Kummer, in Hunger und Durst, in Kälte und Blöße" (2 Kor 11,27).

215. Das und anderes dieser Art sind die heiligen Bemühungen, die Übungen, die der Apostel empfiehlt, in denen der Geist allein mit Gott sich prüft, findet und bessert, sich reinigt von jeder Befleckung des Fleisches und Geistes und die Heiligung in der Furcht Gottes vollendet (2 Kor 7,1).

216. Diese Bemühungen lieben das Schweigen, verlangen die Ruhe des Herzens in der Mühsal des Körpers, die Armut des Geistes und den Frieden in den äußeren Bedrängnissen und ein gutes Gewissen in aller Reinheit des Herzens und des Körpers. Diese machen den Geist zu dem, was er ist, weil sie die Voraussetzungen dazu bieten. Jene eitlen, albernen, wortreichen, streitsüchtigen, neugierigen und ehrgeizigen Taten aber zerstreuen und verderben sogar einen Geist, der schon durchgebildet oder schon vollkommen ist.

217. Diese Bemühungen suchen nicht sosehr die Blüten als die Wurzeln der Tugenden; es geht ihnen nicht darum, zu scheinen, sondern zu sein; nicht darum, dass man sie bemerkt, sondern dass man sie besitzt.


Die schlechten Gewohnheiten

218. Sie fürchten aber mehr die lasterhaften Begierden in sich selbst als eine Bedrohung, die von außen kommt; mehr die Ansteckung als die Bosheit. Wie nämlich die Tugenden manchmal durch große Mühe und ausdauernden Eifer die Gefühle des Menschen bestimmen und ihm einen guten Geist geben, so werden die' geringsten Fehler bei Gelegenheit einer etwas freizügigen Nachlässigkeit zum Sauerteig und werden gleichsam natürlich.

219. Aber kein Laster ist natürlich, während die Tugend für den Menschen natürlich ist. Dennoch pflegt die Gewohnheit eines verdorbenen Willens oder einer eingewurzelten Nachlässigkeit sehr viele Laster in einem vernachlässigten Gewissen gleichsam natürlich zu machen. Denn die Gewohnheit ist, wie die Philosophen sagen, eine zweite Natur.

220. Dennoch kann die Bosheit eines jeden menschlichen Geisteserweicht werden, bevor sie hart wird. Aber auch, wenn sie hart geworden ist, braucht man nicht zu verzweifeln. Denn das ist der Fluch Adams (Gen 3,17-19), sowohl auf dem Felde unserer Arbeit, als auch auf dem Acker unseres Herzens oder Körpers, dass schädliche oder unnütze Pflanzen von selbst überall hervorkommen, während nützliche, notwendige und heilsame nur das Ergebnis unserer Arbeit sind.

221. Weil die Tugend aber eine Sache der Natur ist, kommt sie nicht immer ohne Mühe, wenn sie in die Seele kommt. Aber sie kommt an ihren eigenen Platz und sie bleibt dort in Treue. Die Natur kommt gut mit ihr aus, weil es für sie keine größere Belohnung gibt, als sich in Gott zu erkennen.


Die Laster

222. Vom Laster aber nimmt man an, dass es nichts anderes sei als ein Fehlender Tugend. Dennoch hat man manchmal den Eindruck, dass seine ungeheure Größe alles gleichsam überwältigt und unterdrückt, seine Hässlichkeit alles beschmutzt und vergiftet, seine Verbindung mit der Gewohnheit so hartnäckig ist, dass sich die Natur kaum von ihm befreien kann.

223. Denn vergeblich sucht man das Flussbett des Lasters auszutrocknen, wenn man nicht die Quelle verstopft. Dafür ein Beispiel: Eine Nachlässigkeit des Willens bewirkt Leichtfertigkeit.  Von dieser kommen Unbeständigkeit des Geistes, ein wankelmütiger Charakter, eitle Freude, die oft zur Ausschweifung des Fleisches verleitet, eine grundlose Traurigkeit, die manchmal eine Erkrankung des Körpers zur Folge haben kann, und viele andere Übel, die vom Laster des Leichtsinns kommen, und zu Nachlässigkeit und Übertretung der Regel führen. So bläht auch ein gewohnheitsmäßig stolzer Wille den Geist auf während das Herz oft in großem Elend bleibt. Davon kommen eitler Ruhm, Vertrauen auf sich, Missachtung Gottes, Prahlerei, Ungehorsam, Verachtung, Anmaßung und andere Seuchen der Seele, die aus der Geschwulst und aus der Gewohnheit des Stolzes hervor zufließen pflegen.

224. Und auf diese Weise leiten alle Arten von Lastern jeweils ihren Ursprung von einer Neigung des schlechten Willens oder vom Zwang einer schlechten Gewohnheit her. Je angenehmer diese Gewohnheit für den Geist ist und je tiefer sie verwurzelt ist, umso fester haftet sie und sie bedarf stärkerer Heilmittel und verlangt eine aufmerksame Sorge.

225. Denn die Seuchen derartiger Laster verfolgen einen Einsiedler bis in die äußerste Einsamkeit. Und wie eine sicher erworbene Tugend, die ein verlässlicher Besitz des Geistes ist, ihren Besitzer auch in einer Menschenmenge nicht verlässt, so lässt eine lasterhafte Gewohnheit, dem, der sie besitzt, auch in der größten Einsamkeit keine Freiheit. Denn wenn die Gewohnheit nicht mit ausdauerndem Eifer und kluger Anstrengung überwunden wird, kann sie zwar gemildert, aber kaum besiegt werden. Und wie auch immer der Geist sich ordnet und in welcher Einsamkeit er auch wohnt, die Gewohnheit bleibt und lässt die Ruhe und Stille des Herzens nicht zu.

226. Je mehr diese Gewohnheit und Willenshaltung in einem Menschen verwurzelt ist, umso schlimmer und widerspenstiger ist das Übel in ihm. Es ist nicht so sehr eine geistige Bosheit, als vielmehr ein vielfältiges Geschwür und eine harte Stelle des Körpers, ein Zwang, wovon man sich gleichsam nur mit der Gewalt der Hände befreien kann.


Die Tugend

227. Aber kehren wir zum Lob der Tugend zurück: Was ist Tugend? Sie ist eine Tochter der Vernunft, aber noch mehr der Gnade. Denn sie ist eine Kraft, die aus der Natur kommt. Dass diese aber Tugend ist, hat sie von der Gnade. Sie ist eine Kraft, die vom Urteil der zustimmenden Vernunft kommt. Tugend aber ist sie aus dem Streben des erleuchteten Willens. Denn die Tugend ist eine freiwillige Zustimmung zum Guten. Tugend ist eine gewisse Gleichförmigkeit des Lebens, das in allem mit der Vernunft übereinstimmt. Tugend ist der Gebrauch des freien Willens nach dem Urteil der Vernunft. Die Demut ist eine Tugend, ebenso die Geduld. Tugenden sind Gehorsam, Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, Gerechtigkeit und viele andere. Bei all diesen ist die Tugend, wie gesagt, nichts anderes als der Gebrauch des freien Willens nach dem Urteil des Verstandes.

228. Denn der gute Wille ist in der Seele der Ursprung aller Güter und die Mutter aller Tugenden. So ist im Gegenteil der böse Wille der Ursprung aller Übel und Laster. Daher muss ein Mensch, der über seine Seele wacht, sehr sorgsam auf seinen Willen achten, damit er klug erkennt und unterscheidet, was er ohne Einschränkung will oder wollen soll, zum Beispiel die Liebe zu Gott, oder was er als Mittel wollen soll, zum Beispiel die Liebe zur Berufung.

229. Wie man nämlich in jener eine Maßlosigkeit nicht zu fürchten braucht, so muss man in dieser immer nach der Regel des Gehorsams eine vorsichtige und kluge Mäßigung beachten.

230. Denn in der Liebe zu Gott gibt es keine andere Berechnung und kein anderes Maß, als dass wir ihn wenn möglich unbegrenzt lieben, 38 so wie er uns in seiner Liebe bis ans Ende liebte (Joh 13,1), wie der glückliche Mann, der seine übergroße Freude an den Geboten des Herrn hat (Ps 111,1).


Wille und Wahrheit

231. Aber wenn die Hingabe des Liebenden auch kein Ende und keine Grenze haben darf, so muss doch das Tun des Handelnden seine Grenzen, Schranken und Regeln kennen. Damit ein zu eifriger Wille nicht irgendwie abirrt, muss die wachsame Wahrheit durch die Vermittlung des Gehorsams immer anwesend sein.

232. Denn nichts trägt zum Wohle des Menschen, der zu Gott unterwegs ist, mehr bei als Wille und Wahrheit. Denn diese beiden sind gemeint, wenn der Herr sagt: "Wenn sie übereinstimmen, wird ihnen von Gott Vater zuteil, was immer sie erbitten" (Mt 18,19).

233. Wenn diese beiden vollkommen übereinstimmen, dann schließen sie die ganze Fülle der Tugenden in sich, ohne dass sich ein Laster einschleichen könnte. Sie können alles, auch im schwachen Menschen. Sie haben und besitzen alles, auch im Menschen, der nichts hat. Sie geben, gewähren, sammeln und nützen bei dem Menschen, der in sich ruht. Ruhm und Reichtum (Ps 111,3) sind im Gewissen jenes seligen Mannes. Sie kommen aus den Früchten seines guten Willens. Nach außen aber umgibt ihn der Schild der Wahrheit Gottes (Ps 90,5), nicht bloß auf einer Seite wie der Schild dieser Welt, sondern auf allen Seiten. Der gute Wille macht ihn jederzeit froh und glücklich in seinem Innern. In der äußeren Tätigkeit aber macht ihn die Wahrheit ernst und ehrwürdig, sicher und sorglos. So überschreitet jener Mensch menschliche Grenzen. Er lebt immer in Heiterkeit, wie man von jenem Wetter berichtet, das oberhalb der Mondsphäre herrscht.



III. Die Vollkommenheit des Vernunftgemäßen Menschen:
Der Aufschwung des Willens

Die beiden Wege

234. Der Wille ist ein natürliches Streben der Seele, das sich einerseits auf Gott und auf das Innere des Menschen richtet, andererseits auf den Körper und auf die äußerlichen, körperlichen Dinge.

235. Wenn der Wille nach oben strebt, wie das Feuer an den ihm zukommenden Ort, das heißt, wenn er sich mit der Wahrheit verbindet und sich zu Höherem erhebt, ist er verlangende Liebe (amor). Wenn er, um gefördert zu werden, von der Gnade genährt wird, ist er selbstlose Liebe (dilectio). Wenn er erfasst, festhält und genießt, ist er göttliche Liebe (caritas), Einheit des Geistes (1 Kor 6,17) und Gott. Denn Gott ist die Liebe (1 Joh 4,16). Wenn der Mensch darin eine Vollkommenheit erreicht hat (Sir 18,6), ist er aber erst am Anfang, weil es in diesem Leben darin keine Vollendung gibt.

236. Wenn der Wille sich aber zu dem abwendet, was des Fleisches ist, ist er Begierde des Fleisches; wenn er sich zur Neugierde der Welt verführen lasst, ist er Begierde der Augen; wenn er nach Ruhm und Ehre strebt, ist er Hoffart des Lebens (1 Joh 2,16).

237. Doch solange er dabei dem Nutzen oder der Notwendigkeit der Natur dient, ist er Natur oder ein Streben der Natur. Wenn er sich aber auf das Überflüssige oder Schädliche verlegt, ist er ein Laster der Natur oder des Willens selbst. Beim ersten Verlangen oder Auftreten kannst du das an dir selber erkennen. Wenn der Wille in den Dingen, die den Körper betreffen, oder in den Notwendigkeiten des Lebens beim ersten Verlangen eine Grenze setzt, ist er ein natürliches Streben der Seele. Wenn er aber im Verlangen nach immer mehr fortschreitet, verrät er sich selbst, weil er dann nicht so sehr Wille als Laster des Willens ist, nämlich Habgier, Genusssucht oder anderes dieser Art. Denn der Wille hat in diesen Dingen bald genug, den Lastern des Willens ist aber nie etwas genug.

238. Wenn der Wille im Geistlichen und in dem, was Gott betrifft, will, was er kann, und wenn er mehr will, als er kann, ist er zu loben. Wenn er will, was er nicht kann, und wenn er mehr will, als er kann, ist er zu leiten und zu zügeln. Wenn er nicht will, was er kann, ist er aufzuwecken und anzuregen. Denn wenn er nicht gezügelt wird, lässt er sich oft hinreißen und stürzt in die Tiefe. Wenn er nicht aufgeweckt wird, schläft er oft, zögert und vergisst sein Ziel, und leicht biegt er gleichsam zur Seite ab zu den Lockungen eines angebotenen Vergnügens.


Notwendige Zucht

239. Wie es beim Körper gewöhnlich der Fall ist – der Körper eines Menschen wird von einem anderen besser gesehen, als er sich selbst sehen kann - so ist es auch in diesen Dingen: Ein fremdes Auge sieht uns oft besser als das eigene. Ein anderer, der nicht in gleicher Weise von der Leidenschaft desselben Willens beseelt ist wie wir, ist oft ein gerechterer Richter unserer Tat, weil wir entweder aus Nachlässigkeit oder aus Eigenliebe bei uns oft in die Irre gehen.

240. Daher ist der Gehorsam ein guter Wächter unseres Willens, sei es, dass er von einem Befehl oder einem Rat abhängt, sei es, dass er Unterwerfung verlangt oder allein aus Liebe geübt wird. Nach einem Wort des Apostels Petrus (1 Petr 1,22) reinigen nämlich die Söhne des Gehorsams oft ihr Herz vollkommener und angenehmer, wenn sie sich im Gehorsam der Liebe Gleichgestellten oder sogar Untergebenen unterwerfen, als wenn sie sich im Gehorsam des Zwanges ihren Oberen unterwerfen. Denn im ersten Fall befiehlt, rät oder gehorcht allein die Liebe. Der andere aber fürchtet entweder die Strafe, oder es droht eine gebieterische Autorität und eine furchterregende Notwendigkeit. Dort verdient der Gehorsam oft größeres Lob, hier wird dem Ungehorsam immer eine schwerere Strafe angedroht.

241. Daher ist es allen klar, wie notwendig für den Willen ein Wächter ist bei einem Menschen, der sein Herz nach oben gerichtet hat, um sein äußeres Leben zu lenken, zu leiten und zu ordnen, noch mehr aber wegen des inneren Lebens. Denn für eine Seele, die oft an sich oder an Gott denkt, steht der Wille am Anfang eines jeden Denkens und der ganze Verlauf des Denkens folgt notwendiger Weise dem Anfang des Willens.


Das Denken und die Gedanken

242. Drei Dinge sind es, die das Denken bewirken: der Wille selbst, das Gedächtnis und der Verstand. Der Wille zwingt das Gedächtnis, den Stoff hervorzuholen. Er zwingt den Verstand, das zu formen, was hervorgeholt wurde. Er bezieht den Verstand auf das Gedächtnis, damit es dadurch geformt werde. Er richtet die Sehkraft des Denkenden auf den Verstand, damit dadurch das Denken erfolge. Weil der Wille diese Tätigkeiten zu einer Einheit zwingt und mit einer gewissen leichten Bewegung miteinander verbindet, scheint das Denken (cogitatio) von "zwingen" (cogere) den Namen erhalten zu haben.

243. Daraus entstehen alle Gedanken, einerseits die guten und heiligen, die Gottes würdig sind, andererseits die schlechten und verkehrten, die von Gott trennen; wieder andere ohne Verstand, das heißt unnütze und eitle, von denen sich Gott abwendet. Daher heißt es nämlich: "Verkehrte Gedanken trennen von Gott" (Weish 1,3) und: "Der Heilige Geist entfernt sich von unverständigen Gedanken" (Weish 1,5).

244. Was diese Worte betrifft, muss man beachten, dass man ohne jeden Verstand auf keinen Fall denken kann und dass es grundsätzlich ein Denken ohne irgendeinen Verstand nicht gibt. Aber es gibt ein Denken aus der Fähigkeit der natürlichen Vernunft und ein anderes aus der Kraft des vernünftigen Geistes. Der Verstand ist gewiss derselbe. Er übt in natürlicher Weise seine Tätigkeit aus, wohin auch immer er gerichtet ist, zum Guten oder zum Bösen. Er erscheint aber anders, wenn er sich selbst überlassen ist, und anders, wenn er von der Gnade erleuchtet ist.

245. Jener versagt sich nicht den Dingen der Welt, weder den ernsten, noch den unnützen. Dieser aber wendet sich nur den Dingen zu, die seiner würdig und ihm ähnlich sind. Jener wirkt oft, da er sich selbst überlassen und vom Laster angesteckt ist, mit der Kraft der Vernunft und unter dem Antrieb eines verdorbenen Willens und ersinnt verkehrte Gedanken, mit denen er sich selbst, den Denkenden, freiwillig von Gott trennt. Dieser aber ist immer erleuchtet, der Tugend zugetan und bewirkt Frömmigkeit, welche den Denker mit Gott verbindet.

246. Die "unverständigen Gedanken", die von der Schrift an zweiter Stelle genannt werden, sind jene eitlen und unnützen Gedanken, die sich durch die Absicht des Denkenden auf keine der beiden Formen des Verstandes beziehen. Sie zerstören nicht mit einem Schlag, sondern verderben unvermerkt und allmählich. Sie beanspruchen Zeit, behindern notwendige Tätigkeiten und vergiften den Geist. Sie sind nicht so sehr Gedanken, als vielmehr gewisse Bilder von Gedanken, die sich aus wahren oder vorgestellten Erinnerungen herleiten, oder selbst Erinnerungen, die unwillkürlich und vielfältig aus dem Gedächtnis hervorsprudeln.

247. In diesem Fall scheint der Wille eher passiv als aktiv zu sein, da dabei keine Absicht des Denkenden vorliegt. Wenn sich das, was von selbst aus dem Gedächtnis heraufkommt, dem unbekümmerten Verstand zur Formung anbietet, so scheint alles, was geschieht, eher im Traume eines Schlafenden zu geschehen als in der Überlegung eines Denkenden. Wenngleich es nicht in der Absicht des Denkenden liegt, den Heiligen Geist von sich zu stoßen, so geschieht es dennoch durch die Schuld des Nachlässigen, dass sich der Geist der Ordnung mit Recht von den ungeordneten Gedanken entfernt.

248. Wenn diese Gedanken auch durch eine gewisse verborgene Kraft der Vernunft hervorgerufen werden, so kommen sie dennoch nicht aus der Vernunft und der Verstand wird zu ihnen gezogen, da es zu ihnen keine Zustimmung des Erkennenden gibt. Wenn man aber ernsthaft über ernste Dinge nachdenkt, ruft der Wille durch die freie Entscheidung der Vernunft alles aus dem Gedächtnis hervor, was er benötigt, und wendet den formenden Verstand dem Gedächtnis zu. Der Verstand wendet das Geformte, was immer es sein mag, der Sehschärfe des Denkenden zu, und so wird die Tätigkeit des Denkenden durchgeführt.


3. Kapitel:
Der geistliche Mensch
oder der Vollkommene

I. Vom Reich des Denkens zum Reich der Liebe
(Der Anfang des Geistlichen)

Eingreifen des Heiligen Geistes

249. Wenn sich aper das Denken auf das richtet, was von Gott kommt oder was zu Gott führt, und wenn der Wille so weit voranschreitet, dass er Liebe wird, ergießt sich auf dem Weg der Liebe sofort der Heilige Geist, der Geist des Lebens der alles belebt. Er hilft der Schwäche des Denkenden ab, entweder im Gebet, in der Betrachtung oder im Studium. Und sofort wird das Gedächtnis zur Weisheit (sapientia). Wenn ihm die Güter des Herrn süß schmecken (sapiunt), und die Gedanken, die davon kommen, wendet es dem Verstand zu, damit er sie in liebende Zuneigung umforme. Der Verstand des Denkenden wird aber zur Beschauung des Liebenden. Diese formt ihren Stoff um in gewisse Erfahrungen der geistlichen oder göttlichen Süßigkeit und sie erfüllt mit ihnen den Blick des Denkenden. Dieser aber wird zur Freude des Genießenden.

250. Und dann denkt man richtig von Gott, nach menschlichem Maß, wenn man freilich das noch Denken (cogitatio) nennen darf, wo nichts zwingt (cogit) und nichts gezwungen wird (cogitur). sondern wo es in der Erinnerung an die Fülle der Süßigkeit Gottes (Ps 144,7) nur Frohlocken und Jubel gibt und wo der eine wirkliche Erfahrung vom Herrn in seiner Güte macht, der ihn in der Einfalt des Herzens gesucht hat (Weish 1,1).

251. Aber diese Weise, von Gott zu denken, liegt nicht im Ermessendes Denkenden, sondern in der Gnade des Schenkenden, wenn nämlich der Heilige Geist diesem Menschen seinen Hauch mitteilt. Er weht, wo er will (Joh 3,8), wann er will und wie er will und für wen er will. Aufgabe des Menschen ist es, beständig sein Herz zu bereiten (1 Sam 7,3; Sir 2,20; 2 Chr 12,14), indem er seinen Willen von fremden

Neigungen reinigt, die Vernunft oder den Verstand von Sorgen, das Gedächtnis von müßigen, geschäftigen, manchmal auch von notwendigen Beschäftigungen befreit. So sollen sich am guten Tag des Herrn und in der Stunde des Wohlgefallens (Ps 68,14), wenn er das Brausen des wehenden Geistes hört (Joh 3,8), alle Elemente, die das Denken bewirken, sofort von selbst vereinigen, zum Guten zusammenwirken (Röm 8,28) und gleichsam ein Bündel bilden, zur Freude des Denkenden. Der Wille stellt dann eine reine Hinwendung zur Freude dar, die vom Herrn kommt. Das Gedächtnis bietet einen zuverlässigen Stoff und der Verstand die Süßigkeit der Erfahrung.


Notwendige Beherrschung des Willens

252. So bewirkt also der vernachlässigte Wille müßige und Gottes unwürdige Gedanken; der verdorbene Wille verkehrte Gedanken, die von Gott trennen; der aufrechte Wille notwendige Gedanken zum Nutzen des Lebens; der fromme Wille wirksame Gedanken für die Früchte des Geistes und für den Genuss Gottes. Die Früchte des Geistes aber sind, wie der Apostel sagt: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Langmut, Güte, Wohlwollen, Sanftmut, Treue, Bescheidenheit, Enthaltsamkeit und Keuschheit (Gal 5,22.23).

253. Bei jeder Art von Gedanken wird alles, was dem Denkenden begegnet, der Absicht des Willens gleichgestaltet. Das geschieht durch das Wirken der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes (Ps 100,1), damit der Gerechte noch gerechter und der Unreine noch unreiner wird (Offb 22,11).

254. Daher muss der Mensch, der Gott lieben will oder schon liebt, immer seine Seele überprüfen, sein Gewissen erforschen, um zu erkennen, was er zur Gänze will, und weswegen er will, was der Geist sonst will, oder weswegen er hasst, was das Fleisch im Gegensatzdazu begehrt (Gal 5,17).

255. Denn die Wünsche, die gleichsam von außen kommen, gehen und vorbeifliegen, so dass er bald will, bald nicht will, sind keineswegs unter die Regungen des Willens zu zählen, sondern beinahe unter die müßigen Gedanken. Denn wenn sie manchmal auch so weit gehen, dass sie den Geist ergötzen so befreit sich der Geist, der seiner mächtig ist, doch schnell von ihnen.

256. Um auf das zurückzukommen, was er ganz will, muss er zuerst betrachten, was das ist, was er so will; dann in welchem Maß und auf welche Weise er es will. Wenn das, was er ganz will, Gott ist, muss er untersuchen, in welchem Maß und auf welche Weise er Gott will, ob er ihn will bis zur Verachtung seiner selbst und aller Dinge, die sind oder sein können; und das nicht nur durch das Urteil des Verstandes, sondern auch aus der liebenden Neigung des Herzens, sodass der Wille mehr als Wille ist, dass er verlangende Liebe (amor), selbstlose Liebe (dilectio). göttliche Liebe (caritas) ist, dass er Einheit des Geistes ist.


Die Stufenleiter der Liebe

257. So muss man nämlich Gott lieben. Ein starker Wille, der sich auf Gott richtet, ist verlangende Liebe (amor). Die selbstlose Liebe (dilectio) ist Anhangen oder Vereinigung, die göttliche Liebe (caritas) ist Genießen. Die Einheit des Geistes mit Gott ist für den Menschen, der sein Herz nach oben gerichtet hat, die Vollkommenheit des Willens auf dem Weg zu Gott. Er will dann nicht nur, was Gott will; er ist nicht nur von Liebe erfüllt, sondern so vollkommen in seiner liebenden Zuneigung, dass er nur wollen kann, was Gott will.

258. Wollen aber, was Gott will, das bedeutet schon Gott ähnlich sein. Nur wollen können, was Gott will, das bedeutet schon sein, was Gott ist, für den Wollen und Sein dasselbe ist. Daher wird mit Recht gesagt, dass wir ihn dann ganz schauen werden, wie er ist, wenn wir ihm ähnlich sein werden. (1 Joh 3,2), das heißt, wenn wir sein werden, was er ist. Denen nämlich die Macht gegeben ist, Kinder Gottes zu werden (Joh 1,12), ist gewiss nicht die Macht gegeben, dass sie Gott  sind, sondern dass sie sind, was Gott ist: heilig und in Zukunft vollkommen selig, wie Gott. Die Heiligkeit in diesem Leben und die Seligkeit im künftigen Leben haben sie nur von Gott, der ihre Heiligkeit und Seligkeit ist.


Die dreifache Ähnlichkeit und
die Einheit mit Gott

259. Und das ist die ganze Vollkommenheit: die Ähnlichkeit mit Gott. Nicht vollkommen sein wollen heißt sich verfehlen. Daher muss man für diese Vollkommenheit den Willen beständig nähren und die Liebe bereiten. Man muss den Willen daran hindern, sich an fremde Dinge zu verlieren. Man muss die Liebe hüten, dass sie nicht befleckt wird. Nur deswegen sind wir geschaffen worden und leben wir, dass wir Gott ähnlich sind. Nach dem Bild Gottes sind wir nämlich geschaffen worden (Gen 1,26).

260. Es gibt aber eine Ähnlichkeit mit Gott, die niemand ablegen kann, solange er lebt. Diese hat der Schöpfer aller  Menschen einem jeden Menschen als Zeugnis für eine verlorene, bessere und würdigere Ähnlichkeit hinterlassen. Diese besitzt jeder, ob er will oder nicht, sowohl der, der sie erkennen kann, als auch der, der so stumpfsinnig ist, dass er sie nicht erkennen kann. Sie besteht darin, dass, wie Gott überall ist und in seiner Schöpfung überall ganz ist, so auch jede lebende Seele ganz in ihrem Körper ist. Und wie Gott, der immer sich selber gleich ist, in seiner Schöpfung in gleichbleibender Weise ungleiche Wirkungen hervorbringt, so bringt auch die Seele des Menschen, wenngleich sie den ganzen Körper mit dem gleichen Leben belebt, dennoch in den Sinnen des Körpers und in den Gedanken des Herzens in einer gleichen Handlung beständig ungleiche Wirkungen hervor. Diese göttliche Ähnlichkeit im Menschen ist, was das Verdienst betrifft, vor Gott von keiner Bedeutung, da sie Eigenschaft der Natur ist und nicht eine Frucht des Willens oder der Anstrengung.

261. Aber es gibt eine andere Ähnlichkeit, die Gott näher kommt, insofern sie freiwillig ist. Sie besteht in den Tugenden. Hier möchte die Seele durch die Größe der Tugend die Größe des höchsten Gutes gleichsam nachahmen und, wenn die Beständigkeit im Guten andauert, auch seine ewige Unveränderlichkeit.

262. Überdies gibt es aber noch eine andere Ähnlichkeit mit Gott. Von dieser haben wir schon einiges gesagt. Sie ist sosehr etwas ganz Eigenes, dass sie nicht mehr Ähnlichkeit, sondern Einheit des Geistes genannt wird. Das ist dann der Fall, wenn der Mensch eins wird mit Gott, ein Geist, nicht nur in der Einheit des gleichen Wollens, sondern in einer Tugend, die viel ausdrücklicher und echter ist, wie wir schon gesagt haben, die nicht mehr imstande ist, etwas anderes zu wollen.

263. Man spricht von einer Einheit des Geistes, nicht nur weil sie der Heilige Geist bewirkt oder weil er den Geist des Menschen ergreift, sondern weil diese Einheit der Heilige Geist selbst ist, Gott, die Liebe. Weil er die Liebe des Vaters und des Sohnes ist, ihre Einheit und Süßigkeit, ihre Güte und ihr Kuss, die Umarmung und was immer beiden gemeinsam sein kann, so wird in dieser höchsten Einheit der Wahrheit und Wahrheit der Einheit dasselbe dem Menschen im Hinblick auf Gott auf seine Weise zuteil, wie in der gleichwesentlichen Einheit dem Sohn im Hinblick auf den Vater und dem Vater im Hinblick auf den Sohn. Das selige Bewusstsein findet sich dann gewissermaßen mitten in der Umarmung und im Kuss des Vaters und des Sohnes. Wenn der Mensch Gottes in einer unaussprechlichen und unausdenkbaren Weise verdient, zwar nicht Gott zu werden, aber doch das, was Gott ist, dann ist der Mensch aus Gnade, was Gott von Natur aus ist.


Der Urheber der göttlichen Vereinigung

264. Daher hat der Apostel in der Aufzählung der geistlichen Übungen in kluger Weise den Heiligen Geist eingefügt, wenn er sagt: "Durch Keuschheit, mit Weisheit, mit Langmut, mit Freundlichkeit, mit dem Heiligen Geiste, mit ungeheuchelter Liebe, mit dem Wort der Wahrheit, mit der Kraft Gottes" (2 Kor 6,6.7). Beachte also, wie er in die Mitte dieser guten Tugenden, wie das Herz in die Mitte des Körpers, den Heiligen Geist setzt, der gleichsam alles bewirkt, ordnet und belebt.

265. Er ist nämlich der allmächtige Künstler (Weish 7,21), der den guten Willen des Menschen Gott gegenüber hervorbringt, der die Versöhnung Gottes mit den Menschen bewirkt, der die liebende Zuneigung ausbildet, die Tugend gewährt, der Tat Erfolg verleiht, der alles machtvoll durchwaltet und in Milde ordnet (Weish 8,1)

266. Er selbst belebt den Geist des Menschen und hält ihn zusammen, wie jener seinen Körper belebt und zusammenhält. Die Menschen mögen lehren, Gott zu suchen, die Engel, ihn anzubeten. Er allein lehrt, ihn zu finden, zu besitzen und zu genießen. Er ist die Sorge dessen, der ihn richtig sucht, und die Frömmigkeit dessen, der ihn im Geist und in der Wahrheit anbetet, die Liebe des Besitzenden und die Freude des Genießenden.

267. Was immer er aber auch hier an Schau und Erkenntnis Gottes den Gläubigen zuteilt, ist dennoch nur Spiegel und Rätsel (1 Kor 12,13), so weit von der künftigen Schau und Erkenntnis entfernt, wie der Glaube von der Wahrheit entfernt ist, oder die Zeit von der Ewigkeit, auch wenn manchmal eintritt, was wir im Buch Ijob lesen: "Er verbirgt in seinen Händen das Licht und befiehlt ihm, dass er hinaufkomme, und kündet seinem Geliebten, dass dies sein Besitz sei und dass er zu ihm aufsteigen könne" (Ijob 26,32.33 LXX).


II. Von Klarheit zu Klarheit
oder die göttliche Beschauung
(Der Fortschritt des Geistlichen)

Gotteserscheinungen

268. Dem Auserwählten und Geliebten Gottes wird nämlich  manchmal ein Strahl des Lichtes vom Antlitz Gottes gewährt, wie ein Licht, das in den Händen verborgen ist, das sich zeigt oder unsichtbar ist nach dem Gutdünken des Trägers, damit der Geist durch das, was er gleichsam im Vorübergehen und in einem Augenblick sehen darf, nach dem vollen Besitz des ewigen Lichtes entbrenne, nach dem Erbe der vollkommene Schau Gottes.

269. Damit er bis zu einem gewissen Grad das erkennt, was ihm fehlt, berührt die Gnade manchmal gleichsam im Vorübergehen den Sinn des Liebenden, entreißt ihn sich seiber und führt ihn hin zu dem Tag, der ist 40, fern vom Lärm der Welt, zu den Freuden des Schweigens. Da zeigt er sich ihm selbst (Ps 4,9) nach seinem Maß für einen Augenblick, für einen Zeitpunkt, damit er ihn sehen kann, wie er ist (1 Joh 3,2). Inzwischen verwandelt er ihn auch zu dem, was er selbst ist, 41 damit er nach seinem Maße sei, was Gott ist.

270. Sobald er verstanden hat, was rein und unrein unterscheidet, wird er sich selber zurückgegeben, zu sich zurückgeschickt, um sein Herz für die Schau zu reinigen, um seine Seele für die Ähnlichkeit zu bereiten. So soll er, wenn er wieder einmal zugelassenwird, noch reiner sein für die Schau, noch beständiger für den Genuss.


Die Reinigung der Seele

271. Denn nirgends begreift der Mensch das Maß seiner Unvollkommenheit besser als im Lichte des Angesichtes Gottes (Ps 4,7); im Spiegel der göttlichen Schau. Sobald er am Tag, der ist, mehr und mehr sieht, was ihm fehlt, verbessert er von Tag zu Tag durch Ähnlichkeit, was er durch Unähnlichkeit gefehlt hat. Durch Ähnlichkeit nähert er sich ihm, von dem er sich durch Unähnlichkeit entfernt hat. So begleitet eine immer deutlichere Ähnlichkeit eine immer deutlichere Schau.


Fortschritt in der Liebe

272. Es ist nun tatsächlich unmöglich, das höchste Gut zu sehen und nicht zu lieben, oder nicht in dem Maße zu lieben, als man es sehen durfte. Soweit sollte die Liebe voranschreiten, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit jener Liebe erreicht, die Gott dem Menschen ähnlich machte in der Erniedrigung des menschlichen Schicksals, um den Menschen Gott ähnlich zu machen in der Herrlichkeit der Teilnahme am göttlichen Leben. Und dann ist es für den Menschen süß, sich mit der höchsten Majestät zu erniedrigen, die Armut zu teilen mit dem Sohne Gottes, sich der göttlichen Weisheit gleichzugestalten, von derselben Gesinnung erfüllt zu sein wie Christus Jesus, unser Herr (Phil 2,5).

273. Das ist nämlich Weisheit mit Frömmigkeit, Liebe mit Furcht, Frohlocken mit Zittern, wenn wir begreifen und verstehen, dass Gott sich bis zum Tode erniedrigt hat, bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8), um den Menschen zu erhöhen bis zur Ähnlichkeit mit Gott. Von hier strömt das Wasser des Flusses, das die Stadt Gottes erfreut (Ps45,5), die Erinnerung an die Überfülle seiner Güte (Ps 144,7), wenn wir seine Wohltaten an uns verstehen und begreifen.

274. Wenn nun der Mensch das Liebenswerte an Gott betrachtet oder schaut, wird er leicht zur Liebe Gottes geführt. Denn durch sich selbst leuchten im Gemüt des Schauenden auf: seine Macht, seine Stärke, Ehre, Majestät, Güte und Seligkeit. Dennoch zieht vor allem das den Liebenden in geistlicher Weise zum Liebenswerten, dass er in sich selbst all das ist, was an ihm liebenswert ist. Er ist ja ganz, was er ist, wenn nur ein Ganzes da ist, wo es keinen Teil gibt.


Die Ruhe in Gott

275. Diesem Gut wendet sich die fromme Zuneigung durch die Liebe zu diesem Gut selbst so zu, dass sie sich von ihm nicht trennt, bis sie mit ihm eins oder ein Geist geworden ist. Wenn diese Einigung in ihm vollkommen ist, wird er nur mehr durch den Schleier der Sterblichkeit vom Allerheiligsten, von jener höchsten Seligkeit der Himmlischen, getrennt und geschieden. Weil er sie doch schon im Glauben und in der Hoffnung auf den, den er liebt, in seinem Bewusstsein genießt, erträgt er auch, was von diesem Leben noch übrig ist, mit größerer Geduld.


III. Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit
oder die Einheit mit Gott
(Vollkommenheit des Geistlichen)

Das Anhangen am Guten
oder die Gewohnheiten der Tugenden

276. Und das ist das Ziel des Kampfes in der Einsamkeit, das Ende, der Lohn und die Ruhe von den Mühen und zugleich der Trost in den Schmerzen. Das ist auch die Vollkommenheit und die wahre Weisheit des Menschen. Sie umfängt und enthält in sich alle Tugenden, die nicht von anderswo entliehen, sondern in ihr gleichsam von Natur aus eingepflanzt sind, nach jener Ähnlichkeit mit Gott, durch die er selbst ist, was er ist. Wie nun Gott das ist, was er ist, so ist auch, was das Gut der Tugend betrifft, die Gewohnheit des guten Willens so zu einer guten Gesinnung gefestigt und gestimmt, dass sie infolge der glühendsten Anhänglichkeit an das unveränderliche Gut anscheinend auf keine Weise mehr geändert werden kann von dem, was sie ist.


Wissen und Weisheit

277. Wenn nun der Mensch von Gott, dem Herrn, dem Heiligen Israels, unserem König (Ps 88,19) erhoben wird, betrachtet der weise und fromme Geist durch die erleuchtende und helfende Gnade in der Schau des höchsten Gutes auch die Gesetze der unveränderlichen Wahrheit, soweit er es verdient, sie mit dem Verstehen der Liebe zu berühren, und schafft sich aus diesen Gesetzen eine Art himmlischen Wandels (Phil 1,12), ein Ideal der Heiligkeit. Er betrachtet nämlich die höchste Wahrheit und die Dinge, die ihre Wahrheit von ihr ableiten; das höchste Gut und die Dinge, die durch es gut sind, die Tiefe der Ewigkeit und was aus ihr hervorgeht. Jener Wahrheit, liebe und Ewigkeit macht er sich gleich, während er sein Leben hier auf Erden führt. Er erhebt sich nicht über sie durch sein Urteil, sondern schaut in Sehnsucht zu ihnen auf, oder ist ihnen in liebe verbunden. Während er die geschaffene Welt annimmt, passt er sich ihnen an, nach ihnen formt er sein Leben, aber nicht ohne das Urteil der Unterscheidung, nicht ohne überlegende Prüfung und vernünftiges Urteil.

278. Daraus werden die heiligen Tugenden empfangen und geboren. Das Bild Gottes wird im Menschen erneuert und jenes Leben Gottes wird geordnet, dem manche Menschen entfremdet sind, wie der Apostel klagt (Eph 4,18). Und es wird die Kraft zur Tugend gewonnen, die beiden Grundlagen, aus denen das kontemplative und aktive Leben 42 besteht, von denen man nach alten Erklärern bei Ijob lesen kann: "Siehe Frömmigkeit ist Weisheit, das Böse zu meiden, ist Wissen" (Ijob 28,28 LXX).

279. Die Weisheit ist nämlich Frömmigkeit, das ist Gottesverehrung, Liebe, in der wir ihn zu erkennen verlangen. Wenn wir ihn im Spiegel und im Rätsel sehen, glauben und hoffen wir, dass wir soweit voranschreiten, dass wir ihn einmal in Offenheit schauen.

280. Das Böse aber zu meiden ist Wissen um die zeitliche Wirklichkeit, in der wir leben. Dabei meiden wir soweit das Böse, als wir nach dem Guten streben.

281. Auf dieses Wissen, auf diese Enthaltsamkeit bezieht sich an erster Stelle die Übung aller Tugenden, an zweiter Stelle auch die Schulung in allen Künsten dieses gegenwärtigen Lebens. Das eine von beiden, nämlich die Übung der Tugenden, scheint eher die höhere Wirklichkeit zu betreffen, die die Tugend einer höheren Weisheit offenbart und süßen Duft ausströmt. Weil das andere mit körperlichen Übungen zu tun hat, verliert es sich elend in der Eitelkeit der niedrigeren Dinge, wenn es nicht durch das Band des Glaubens gehalten wird.


Erworbenes und angeborenes Wissen

282. Weil im Übrigen das Wissen eine Sache ist, die entweder mit dem Verstand oder mit den Sinnen des Körpers erfasst und dem Gedächtnis anvertraut wird, so ist, wenn die Sache gut überlegt wird, gerade das, was wir mit den Sinnen erfassen, auf jeden Fall dem Wissen zuzuordnen. Was aber der Verstand durch sich selbst in diesen Dingen erfasst, das gehört schon dorthin, wo Wissen und Weisheit aneinander grenzen.

283. Denn alles, was von anderswoher aufgenommen wird, nämlich durch die Sinne des Körpers, das wird gleichsam als etwas Fremdes und von außen Kommendes dem Geiste zugeführt. Was aber von selbst in den Geist kommt, sei es durch die Kraft des Verstandes selbst, sei es aus der natürlichen Erkenntnis der unveränderlichen Gesetze der unveränderlichen Wahrheit - auch die gottlosesten Menschen urteilen deswegen manchmal sehr richtig - das ist so in der Vernunft, dass gerade das die Vernunft selber ist. Und es wird ihr nicht durch irgendeine Belehrung nahegelegt, dass es ein Wissen ist, sondern sie erkennt entweder durch die Mahnung eines anderen oder durch die eigene Erinnerung dieses Wissen als natürlichen Besitz.

284. Das zeigt sich vor allem darin, dass das, was von Gott durch die natürliche Offenbarung bekannt ist, dem Menschen offenbar wird, auch dem Gottlosen (Röm 1,19). Davon kommt eine natürliche Neigung zur Tugend, von der ein heidnischer Dichter sagenkonnte: "Die Guten hassen die Sünde aus Liebe zur Tugend" (Horaz epist I 16,52). Außerdem geschehen alle Unterscheidungen zwischen den Objekten der Vernunft durch Untersuchung und Schlussfolgerung.

285. Die niedrigste Form des Wissens, die nach unten gerichtet ist, ist die körperliche Erfahrung der sinnlichen Dinge, die durch die fünf Sinne des Körpers gemacht wird, vor allem wenn die Begierden des Fleisches, der Augen oder der Hoffart des Lebens ihren Kampf beginnen (1 Joh 2,16).


Das vollkommene Leben

286. Wenn die der Weisheit gleichgeformte Vernunft sich ein Gewissen bildet und das Leben ordnet, dann sucht sie in den niederen Bereichen des Wissens die Unterwerfung und das Genügen der Natur, im Bereich der Schlussfolgerung und des Denkens sucht sie die Ordnung des Lebens, im Erlangen der Tugend formt sie ihr Gewissen. Vom Niedrigen gefördert,  vom Höheren unterstützt, schreitet sie so voran zudem, was recht ist. Durch das Urteil des Verstandes, durch die Zustimmung des Willens, durch die Zuneigung der Seele und durch die Ausführung des Werkes beeilt sie sich aufzubrechen zur Freiheit des Geistes und zur Einheit, damit, wie schon so oft gesagt wurde, der treue Mensch ein Geist wird mit Gott (1 Kor 6,17).

287. Und das ist schon das Leben Gottes, von dem wir ein wenig vorher gesprochen haben, das nicht sosehr ein Fortschritt in der Vernunft ist, als vielmehr die vollkommene Liebe in der Weisheit. Weil das dem Weisen "schmeckt", ist er ein Weiser. Weil er ein Geist mit Gott wurde, ist er ein Geistlicher. Und das ist in diesem Leben die Vollkommenheit des Menschen.


Die Einheit mit Gott

288. Denn wer bisher ein Einsiedler oder einsam war, wird nun eins und die Einsamkeit des Körpers wird für ihn verwandelt in die Einheit des Geistes. An ihm erfüllt sich, was der Herr für seine Jünger in einer Zusammenfassung aller Vollkommenheit erbeten hat: "Vater, ich will, dass, wie ich und du eins sind, so auch sie in uns eins sind" (Joh 17,21-24).

289. Denn dies ist die Einheit des Menschen mit Gott oder die Ähnlichkeit mit Gott. Je näher der Mensch Gott kommt, umso mehr macht er den niedrigeren Teil der Seele mit sich gleichförmig, und den niedrigsten Teil mit diesem. So sind Geist, Seele und Leib auf ihre Weise geordnet, an ihren Platz gestellt, nach ihren Verdiensten beurteilt und auch in ihrer Eigenart verstanden. So beginnt der Mensch sich vollkommen zu erkennen und durch die Selbsterkenntnis voranzuschreiten und aufzusteigen zur Erkenntnis Gottes.


Die Frucht der Einheit: Die Erkenntnis Gottes

290. Sobald die Liebe des Voranschreitenden beginnt, sich zu Gott zu erheben und nach ihm zu streben, muss beim Gedanken an die Ähnlichkeit vor allem der Irrtum der Unähnlichkeit vermieden werden, dass man nämlich beim Vergleich der geistlichen Dinge mit geistlichen, der göttlichen Dinge mit göttlichen nicht anders denkt, als diese wirklich sind.

291. Wenn also der Geist an seine Ähnlichkeit mit Gott denkt, muss er sein Denken vor allem in dieser Hinsicht formen und gestalten, dass er ganz und gar vermeidet, sich selbst wie einen Körper zu denken. Gott aber darf er sich nicht nur nicht wie einen Körper denken, wie etwas Räumliches, sondern auch nicht wie einen Geist, wie etwas, das sich ändern kann. Geistiges ist nämlich insofern von der Eigenschaft und Natur der Körper verschieden, als es von jeder örtlichen Umgrenzung entfernt ist. Was aber göttlich ist, überragt alles sosehr, sowohl Körperliches als auch Geistiges, wie es frei ist von jedem Gesetz des Ortes oder der Zeit und von jedem Verdacht auf Veränderlichkeit. Es bleibt unveränderlich und ewig in der Seligkeit seiner Unveränderlichkeit und Ewigkeit.

292. Wie nun der Geist Dinge, die körperlich sind, durch die Sinne des Körpers unterscheidet, so kann er die Dinge, die vernunftgemäß oder geistig sind, nur durch sich selbst unterscheiden. Was aber die Dinge Gottes angeht, kann er ein Verstehen nur bei Gott suchen oder erwarten. Freilich ist es bei manchen Dingen, die Gott betreffen, dem Menschen, der einen Verstand hat, erlaubt oder möglich, manchmal an sie zu denken und sie zu erforschen, wie die Süßigkeit seiner Güte, die Größe seiner Macht und anderes dieser Art. Er selbst aber, der selbst ist, was er ist, kann überhaupt nicht gedacht werden, außer insoweit er mit dem Sinn der erleuchteten Liebe berührt werden kann.

293. Dennoch müssen wir an Gott glauben und, soweit der Heilige Geist unserer Schwachheit zu Hilfe kommt (Röm 8,26), müssen wir ihn uns vorstellen als ewiges Leben, lebendig und Leben spendend; als den, der unveränderlich ist und alles Veränderliche hervorbringt, ohne sich zu verändern; der versteht und jeden Verstand und Verstehenden erschafft; als Weisheit, die jeden weise macht; als feste, bestehende und unbeugsame Wahrheit, von der alles wahr ist, was wahr ist, in der von Ewigkeit die Ursachen aller zeitlich hervorgehenden Dinge sind.

294. Für ihn ist das Leben sein Wesen selbst, seine Natur; lebendiges Leben ist er für sich selbst. Das ist für ihn die Gottheit selbst, die Ewigkeit, Größe, Güte und Macht, die in sich selbst ist und besteht, jeden Ort überschreitend kraft seiner nicht ortsgebundenen Natur und durch seine Ewigkeit jede Zeit, die mit dem Verstand oder durch eine Vorstellung erfasst werden kann. Das ist viel wahrer und überragender, als man es in irgendeiner Weise des Denkens denken kann; aber dennoch ist es mit größerer Sicherheit durch den Sinn einer demütigen und erleuchteten Liebe zu erreichen, als durch irgendein Denken des Verstandes. Er ist immer besser, als man denken kann. Dennoch kann man leichter von ihm denken als von ihm sprechen.

295. Dieses Leben ist das höchste Sein, von dem jedes Sein hervorgeht. Es ist die höchste Substanz, nicht sprachlicher Aussage unterworfen, sondern zugrunde liegendes, ursächliches Prinzip aller Dinge. In ihm stirbt unser Sein nicht, unser Verstand irrt nicht und unsere Liebe geht nicht fehl. Immer wird er gesucht, um süßer gefunden zu werden. Am süßesten wird er gefunden, um mit größerer Aufmerksamkeit gesucht zu werden.


Abschluss: Aufruf zur Demut

296. Wer also dieses unaussprechbare Sein sehen will - nur unaussprechbar kann es gesehen werden - soll sein Herz reinigen. Denn nicht kann es durch körperliche Ähnlichkeit von einem Schlafenden, durch körperliche Gestalt von einem Wachenden, durch irgendein Forschen des Verstandes, sondern nur vom reinen Herzen eines demütig Liebenden gesehen oder erfasst werden.

297. Das ist nämlich das Angesicht Gottes. Niemand kann es sehen und zugleich für die Welt leben. Das ist die Schönheit, die jeder zu schauen wünscht, der danach trachtet, Gott, seinen Herrn, mit ganzem Herzen zu lieben, mit ganzer Seele, mit seinem ganzen Gemüt und mit allen seinen Kräften (Dt 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27). Er hört auch nicht auf, seinen Nächsten dazu aufzufordern, wenn er ihn liebt wie sich selbst (Mk 12,31).

298. Wenn er manchmal zu dieser Schau zugelassenwird, sieht er im Lichte der Wahrheit selbst unzweifelhaft die zuvorkommende Gnade. Wenn er von hier zurückgewiesen wird, erkennt er selbst in seiner Blindheit, dass seine Unreinheit mit der Reinheit Gottes nicht zusammenstimmt. Und wenn er liebt, ist es für ihn süß zu weinen und ohne viel Seufzen fühlt er sich gezwungen, zum Wissen um sich selbst zurückzukehren.

299. Gott zu begreifen, sind wir ganz und gar unfähig. Aber er, den wir lieben, vergibt uns. Und obwohl wir bekennen, dass wir von ihm weder würdig sprechen noch über ihn würdig denken können, werden wir dennoch durch seine Liebe aufgerufen und angetrieben, von ihm zu sprechen und über ihn nachzudenken.

300. Darum muss der Denkende sich in allen Dingen demütigen und in sich dem Herrn, seinem Gott, die Ehre geben. Er muss in der Schau Gottes sich selber gering werden, sich in der Liebe zu seinem Schöpfer jedem menschlichen Geschöpf unterwerfen (1 Petr 2,13), seinen Körper als heiliges, lebendiges, Gott wohlgefälliges Opfer darbringen, als seinen geistigen Gottesdienst (Röm 12,1). Vor allem aber soll er nicht weiser sein, als es sich geziemt, sondern weise sein in Nüchternheit, nach dem Maß des Glaubens, das ihm von Gott gegeben ist (Röm 12,3). Er soll das Gute seines Lebens nicht vor den Menschen zur Schau stellen, sondern in seiner Zelle verheimlichen und in seinem Gewissen verbergen. Und dieses Wort soll er immer wie eine Aufschrift über seinem Gewissen und über seiner Zelle haben: "Mein Geheimnis ist bei mir, mein Geheimnis ist bei mir" (Jes 24,16).





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